© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Pankraz,
K. Feldkamp und die kurze Langeweile

Als „Sommer der Langeweile“ wird der Sommer 2018 nach Meinung vieler in die Annalen eingehen. „Immer nur Merkel contra Seehofer oder Seehofer contra Merkel“, stöhnen sie, „das ist ja kaum noch auszuhalten. Es wäre vielleicht erträglich gewesen, wenn wir ins Achtelfinale der Fußball-WM gekommen wären. Aber so? Man weiß kaum noch, was man mit sich anstellen soll.“ Andere sagen freilich genau das Gegenteil. „Endlich mal ein Sommer, wo sich nicht alle aus Berlin in die Sommerferien verziehen. Es bleibt dort spannend. Schon lange nicht mehr haben wir uns so gut unterhalten.“

Wann fängt man wirklich an, sich zu langweilen? Was ist Langeweile überhaupt? Die Frage ist gar nicht so leicht zu beanworten, weshalb ja auch seinerzeit in Köln Karl Feldkamps legendäre „Aktionswoche gegen Langeweile“ soviel Aufmerksamkeit auf sich zog. Es gab seitdem in der Domstadt regelmäßig Kurse über die Langeweile, und sie waren regelmäßig überfüllt. Viel herausgekommen ist dabei nicht, aber man konnte sich doch immerhin endlich einmal gegenseitig sein Leid klagen.

Viele Kursteilnehmer beschreiben die Langeweile eingangs als einen Zustand der Unausgefülltheit und Erlebnisarmut. Als Ursache vermuten sie in der Regel „reizarme Umgebung“ oder auch „gleichförmig wiederkehrende Reize“. Faktisch alle sind sich einig, daß der Zeit ein wichtiger Part bei der Entstehung der Langeweile zukomme, aber die Gründe, die dafür angegeben werden, sind höchst verschieden. Die einen sprechen von „verlorener Zeit“, die anderen dagegen von einem übermäßigen Zeitgewinn, von einer unangenehmen  „Dehnung des Zeiterlebens“.


Die Anwesenheit von „Stickluft“, die zur Langeweile zweifellos dazugehört, kommt interessanterweise kaum vor, obwohl die Klassiker der Langeweile-Deutung, August Wihelm Schlegel, Schopenhauer, Kierkegaard, höchst eindrucksvoll davon sprechen. Schlegel definierte die Langeweile in seinem Athenaeum als eine Art Massenphänomen, wie es entsteht, „wenn eine Menge wartender Menschen im eingeschlossenen Raum beisammen-hockt. Und er fügt hinzu: „Ein einzelner  Gefangener, der von seinen Richtern nichts mehr erwartet und sich ganz auf seine Einsamkeit eingelassen hat, braucht sich nicht zu langweilen.“

Ganz ähnlich sah es Schopenhauer: „Das Warten als die Präsenz der Menge“, schreibt er, „führt von der Einsamkeit weg, es dehnt die Zeit, ohne daß das als Gewinn empfunden würde, weil die gedehnte Strecke sich als leer und nichtig erweist. Man sitzt wie im überfüllten Wartezimmer eines Zahnarztes und kann sich auf nichts konzentrieren, einmal weil der ängstlich flatternde Geist antizipatorisch schon bei der erwarteten und durchaus unerfreulichen Zahnbehandlung ist, zum anderen weil er gründlich von der ebenfalls dumpf vor sich hin wartenden Menge abgelenkt und belästigt wird.“

Man setze für Wartezimmer ARD-Tagesschau ein und für Zahnarztpraxis die Parteibüros von CDU, CSU und SPD, in denen die Politiker seit Wochen und Monaten um die „Lösung“ ihrer Probleme „ringen“, und man wird unschwer die Parallelität zwischen dem Gleichnis von Schlegel/Schopenhauer und den Realereignissen in der Berliner Politik erkennen. In der Tat, so wirkt Langeweile und so läßt sie sich beschreiben. Was in den Parteibüros geschieht, bietet allenfalls geistige Zahnschmerzen, und daß man, um sie zu erleiden, massenweise vor dem Fernseher hockt, verstärkt die Schmerzen nur. 

Glücklicherweise ist das Leben als ganzes nur in der Sicht unverbesserlicher Hypochonder  oder seichter Dummköpfe ein stickiges Wartezimmer. Es wirkt auf Pankraz immer etwas erschreckend, wenn gesunde junge Leute, die nicht einmal arbeitslos sein müssen, ein eminentes Gelangweiltsein zu erkennen geben und darüber klagen, daß alles so reizlos und gleichförmig geworden sei. Darf man denn wirklich „alles“ schlankweg auf die anderen schieben, sollte man nicht zunächst einmal nachsehen, ob das Übel vielleicht in eigener Stickigkeit und Stockigkeit wurzelt?


Langeweile an sich ist kein vornehmer Affekt, auch wenn uns das bestimmte Snobs und Dandys glauben machen wollen. Sie verweist auf Phantasielosigkeit und Gefühlsarmut, und gegen die mit die Phantasie und den Lebensmut trainierenden „Aktionswochen“ anzugehen ist im Grunde gar nicht so folgenlos komisch, wie es im ersten Moment scheinen mag. Denn einem Hypochonder, der wie gebannt immer nur auf die Langeweile starrt und dem die Welt über diesem leeren Warten zur grauen Folie wird, können auf Dauer auch die klamaukhaltigsten Außenreize nicht aufhelfen.

Zum Schluß aber noch die Frage: Ist die Langeweile etwa nur ein typischer Wohlstands-Affekt, wie man gelegentlich zu hören bekommt? „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen“, wußte bekanntlich schon Goethe. Politisch unruhige und wirtschaftlich schwierige Zeiten setzen ja tatsächlich weniger Langeweile frei als satte Friedensjahre. Wer nämlich tagtäglich darum kämpfen muß, halbwegs satt zu werden, und wer zudem ständig mit feindlichen Überfällen zu rechnen hat, der trainiert seine (Überlebens-)Phantasie von ganz allein. Was aber, wenn er dann schließlich den Weg in satte Zeiten schafft?

Der alte Ernst Bloch hielt es für möglich, daß  Revolutionen und Kriege der Zukunft nicht mehr wegen Hungers und sozialer Not, sondern wegen gähnender Langeweile ausbrechen könnten. Wer in Zukunft die Revolution schüren will, notierte er mit leisem Sarkasmus, der muß künstlich Langeweile erzeugen, und wer sie verhindern will, der muß sie bekämpfen.

 Je mehr intellektuelle Langweiler, desto sicherer also die Revolution – aber eine Revolution wohin? Etwa in neue Langeweile mit neuen, noch schlimmeren Langweilern? Da ist es schon besser, den Klein-Langweilern von heute rechtzeitig in die Parade zu fahren. Oder, um mit Chesterton zu sprechen: Katholisch werden, ohne selber langweilig zu werden.