© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Den totalen Staat schaffen
Bolschewismus: Hugo Fischers bislang verschollenes „Lenin“-Buch erschienen
Karlheinz Weißmann

Es gibt verschollene Texte, die man gerne lesen würde. Und daß das unwahrscheinlich oder unmöglich ist, erhöht noch den Reiz. So im Fall von Hugo Fischers „Lenin – Der Machiavell des Ostens“. Ein Buch, das 1933 in der Hanseatischen Verlagsanstalt erscheinen sollte, fertig gesetzt war, dann aber eingestampft wurde. Da Fischer (1897–1975), Privatdozent der Philosophie an der Universität Leipzig, zum Umfeld Ernst Jüngers und Ernst Niekischs gehörte, konnte man mutmaßen, daß die Ursache in Gedankengängen und Formulierungen lag, die dem neuen Regime mißfielen oder dem Verfasser Scherereien, wenn nicht Schlimmeres eingebracht hätten.

Da der verschollene Text nun doch wieder aufgetaucht ist – ein Exemplar befand sich in der Hand Carl Schmitts, der es Armin Mohler schenkte, der es an Günter Maschke weitergab – kann man diese Vermutungen überprüfen und wird sie bestätigt finden. Zum Teil jedenfalls. Denn tatsächlich stand die Argumentation Fischers den Vorstellungen der NS-Führung diametral entgegen. Eine Deutung Lenins als Weltgeist auf dem roten Panzerwagen, als Ausnahmefigur der Geschichte, nur vergleichbar Alexander oder Napoleon, als einziger berufen, der kommenden Epoche eine Gestalt zu geben, widersprach allem, was zum Credo Hitlers und seiner Gefolgschaft gehörte.

Wichtig bleibt aber zu betonen, daß die Differenz keine moralische, sondern eine politische war, was auch die merkwürdig oszillierende Stellungnahme in Fischers Einleitung erklärt. Da nahm er zum Prinzip des „nationalen Sozialismus“ Stellung, dem er ausdrücklich zubilligte, die Halbheiten des italienischen Faschismus hinter sich zu lassen, und auf andere Weise als das Sowjetmodell den wahrhaft „totalen Staat“ zu schaffen, der allein das Potential in sich trage, ein „Reich“ zu formen.

Große Nähe zu Werken Jüngers und Niekischs

Das ins Werk zu setzen, taugte nur Lenin als Muster, der nach Fischers Meinung „ebensowenig ein ‘Kommunist’ wie Richelieu ein ‘Monarchist’ gewesen“ sei. An Mussolini störte Fischer der Unernst, das Theaterhafte, das Kompromißbereite. Ganz anders Lenin, der mit „Elementargewalten“ umging. Was allerdings auch bedeutete, daß er den Lehrsätzen der Ideologie nicht glaubte, sondern sie als Gegebenheit betrachtete, die es als Mittel zu nutzen galt. Sie entfesselte die Dynamik, die nötig war, um das letzte Ziel – das Imperium – zu verwirklichen. Das hieß auch, daß Lenins Bekenntnis zum „Fortschritt“ lediglich Maske war. Nach Fischer ging es nicht um Modernität, sondern darum, „hinter“ die „Modernität“ zu gelangen, indem man deren Prozesse beschleunigte, bis es zu einem dialektischen Umschlag kommen würde.

An dieser letzten und größten Aufgabe war Lenin allerdings gescheitert. Sie verblieb dem Deutschen, der willens und fähig war, „aus der Einheit der modernen Technik, mit der der Apparat des totalen Staats aufgebaut und erhalten wird, jene Übertechnik zu konzipieren, die das Lebensgefüge der res publica des Reiches zusammenhält.“

Diktion und Argumentation Fischers weisen eine große Nähe zu zwei anderen Werken der Zeit auf: Jüngers „Der Arbeiter“ (1932) und Niekischs „Die dritte imperiale Figur“ (1935). Ihnen gemeinsam war die „nationalbolschewistische“ Tendenz, das heißt die Überzeugung, daß der Wiederaufstieg Deutschlands nur möglich sei, wenn die umfassende Mobilisierung aller Kräfte mit Methoden erfolge, wie sie in der Sowjetunion erprobt worden waren.

Damit verbunden war eine massive Skepsis gegenüber Hitler und der NSDAP, allerdings nicht wegen deren totalitärer Tendenz, sondern weil man diese totalitäre Tendenz als ungenügend betrachtete. Das auch, weil weder Jünger noch Niekisch, noch Fischer irgendeine präzise Kenntnis dessen besaßen, was sich unter Lenin und Stalin in Rußland tatsächlich abgespielt hatte und weiter abspielte. Sie fielen einer romantischen Verklärung anheim, die sich als Überrealismus mißverstand. Vor allem weil sie meinten, daß die Selbstdarstellung des Systems als hoch geschlossene, hoch effiziente politische, militärische und wirtschaftliche Einheit neuen Typs den Tatsachen entspreche.

Erst dieser Hintergrund macht das Buch Fischers verständlich. Daß man es nun veröffentlicht hat, ohne den Kontext zu erläutern, ist unbegreiflich. Der von den Herausgebern Steffen Dietzsch und Manfred Lauermann erweckte Eindruck, als habe man es mit einer Untersuchung zu tun, die den Heutigen noch etwas sagte, wirkt ebenso absurd wie die von einigen Rezensenten geäußerte Vermutung, es gehe um ein Programm für die „Neue Rechte“. Wenn, dann hat der „Machiavell des Ostens“ einen Wert als Quelle zum besseren Verständnis der „Konservativen Revolution“ und der Neigung ihres radikalsten Flügels zur Katastrophenpolitik. Vieles spricht für die Annahme, daß die entscheidenden Anregungen dafür von Fischer kamen, der jedenfalls Jünger „den naiven Frontsoldaten-Nationalismus wegoperierte“ (Armin Mohler). Wie die Einflüsse des „Magisters“ (Jünger über Fischer) im einzelnen ausgesehen haben, wäre noch zu untersuchen.

Ein anderes Desiderat ist die Klärung der Frage, was ihn später zur Revision seiner Anschauungen brachte. Denn Fischer verließ Deutschland 1938, ohne im eigentlichen Sinn zu emigrieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er spät – 1956 – zurück, bekam nach Mißhelligkeiten einen Lehrstuhl an der Universität München und veröffentlichte noch eine ganze Zahl von Büchern. Darunter auch eine neue Fassung des „Lenin“. Die wies allerdings kaum mehr Ähnlichkeit mit der ersten auf. Der Grund dafür lag in einer Neuorientierung seines Denkens, die als interessante Variante dessen betrachtet werden kann, was die „Deradikalisierung“ (Jeffrey C. Herf) der „Konservativen Revolution“ genannt worden ist. In einem seiner letzten Texte formulierte Fischer auch eine Kritik des „reinen Politikers“, den er in der ersten Version des Lenin-Buches gefeiert hatte, der aber nur in der Lage sei, eine „trieb- und terminbestimmte Quasiordnung“ zu schaffen und dessen „Sache gewaltsamer, auf Rechtsbruch basierender ‘Ordnung’ in einer Katastrophe enden muß“.

Hugo Fischer: Lenin. Der Machiavell des Ostens. Hrsg. von Steffen Dietzsch und Manfred LauermannMatthes & Seitz, Berlin 2017, gebunden, 328 Seiten, 30 Euro