© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Über Kreuz mit Merkels Politik
Die Autobiographie des Ökonomen und langjährigen Leiters des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn
Albrecht Rothacher

Hans-Werner Sinns Biographie entwickelte sich zielstrebig und gradlinig. Als Sohn eines Lkw-Fahrers und späteren kleinen Taxi-Unternehmers wuchs der heute siebzigjährige als Einzelkind im ländlichen Westfalen auf. Die Eltern hatten nicht viel Zeit für ihren hochbegabten Sohn, so wuchs er bei den sozialdemokratisch gesonnenen Handwerker-Großeltern recht behütet auf, wurde von seinen Lehrern an Volksschule und Gymnasium früh gefördert, unternahm erste Auslandsreisen mit den Falken, und begann so im Revoluzzerjahr 1967 als linker, gelegentlich demonstrierender VWL-Student in Bielefeld. 

Doch schon vor seinem Diplom ist er der Parteipolitik entfremdet und danach als junger wissenschaftlicher Assistent eher an unabhängigen Wahrheiten und wirtschaftspolitischen Einsichten interessiert. Von den eher institutionenökomisch orientierten Bielefelder Finanzwissenschaftlern, die sich den Staatsausgaben widmeten, wechselt er zu den ökonometrisch ausgerichteten Mannheimern, wo er nach einem sehr produktiven Jahr als Assistenzprofessor im kanadischen Ontario Hochschulassistent wird und preisgekrönt habilitiert mit 35 Jahren seine C-2-Professur erhält. 

Zwischenzeitlich hatte er eine Kommilitonin geheiratet, mit ihr Abenteuerreisen durch den Maghreb und Japan erlebt und drei Kinder gezeugt. Nach dem Wechsel zur Universität München setzt sich die Laufbahn eines international immer besser verbundenen und emsig reisenden Ökonomieprofessors mit einem enorm produktiven Publikationsprogramm in wechselnden akademischen Interessenbereichen munter fort. So weit, so gut und so erfreulich. 

Ausverkauf Deutschlands über die EU-Target-Salden

Doch rechtzeitig mit der Wiedervereinigung wird Sinn in den wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums berufen und fühlt sich im Lichte der drängenden Probleme verpflichtet, die bisher üblichen und ausfüllenden „Glasperlenspiele“ der ökonometrischen Kunst-Modellbauer zu verlassen und übernimmt zusätzlich die Politikberatung. Als er den wegen der Produktivitätsunterschiede unangemessenen Austauschkurs DM-West zur Ost-Mark und die überhöhten Lohnabschlüsse im Osten und die Übertragung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) an westliche Kapitalgesellschaften anstelle ihrer früheren bäuerlichen Besitzer kritisiert, die der mitteldeutschen Industrie und vormals vielfältigen Landwirtschaft den Garaus machen und Millionen Arbeitslose produzieren, merkt er, wie beratungsresistent die Berliner Politik ist. 

Seither geht er zunehmend an die Öffentlichkeit, um in Büchern, Interviews und Aufsätzen auf wirtschaftspolitischen Reformbedarf hinzuweisen und vor drohenden Fehlentscheidungen zu warnen. Daran herrschte seither leider kein Mangel. Mit Gerhard Schröders Hartz-IV-Reformen gelang es, die Anreize für die Arbeitslosigkeit und die Frühpensionierungen so zu reduzieren, daß Deutschland als damaliger „kranker Mann Europas“ Anfang der 2000er wieder ein Beschäftigungswunder erlebte. Mittlerweile sind zu Sinns Kummer durch den gesetzlichen Mindestlohn, der Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichtet, und die Verringerung des Rentenalters unter Angela Merkel viele der dringend  nötigen Reformen wieder aufgeweicht und unwirksam geworden. 

Auch ihre Energiewende mit dem Ausstieg aus Atom- und Kohleenergie findet bei ihm keine Gnade. Sie hat durch die marktwidrige Subventionierung der wenig verläßlichen Solar- und Windenergie die Energieversorgung Deutschlands sträflich gefährdet und unsinnig verteuert. In der Fehlkonstruktion des Euro deckte er in akribischer buchhalterischer Detektivarbeit die Problematik der „Target-Salden“ auf, durch die bilaterale Zahlungsbilanzdefizite unter den Euro-Staaten nicht mehr beglichen werden, sondern nur noch als wertlose, meist verschleierte Bilanzposten in den Zentralbanken aufscheinen: ständig wachsende Milliardensummen, die weder verzinst noch beglichen werden müssen. 

Deutschlands Exportüberschüsse in die andere Länder der Eurozone werden damit schlicht auf Kosten der Bundesbank und des Steuerzahlers ohne Gegenwert verschenkt. Damit nicht genug: Die Nullzinspolitik der EZB und ihr hemmungsloser Ankauf von minderwertigen Staats- und Industrieanleihen aus den südlichen Schuldnerländern bricht nicht nur EU-Recht, sie beraubt den deutschen Sparer und – einschließlich der nur auf die lange Bank geschobenen Haftungsrisiken für Griechenland – den deutschen Steuerzahler und seine Erben. 

Opfer von Kampagnen wegen seiner Thesen

Sinn weist überzeugend nach, wie Kanzlerin Merkel, um den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, sowohl Wolfgang Schäuble als Finanzminister als auch der protestierenden Bundesbank in den Rücken fiel und ohne Not opportunistisch deutsche Interessen verriet. Das Ergebnis sind massive Transfers in den Süden Europas , wo wie Sinn dokumentiert, das durchschnittliche Familienvermögen dank des weitverbreiteten Besitzes von Eigenheimen meist mehr als doppelt so groß ist wie im vorgeblich „reichen“ Deutschland, das in schäbigen Mietwohnungen zinslos brav spart und überhohe Steuern zahlt. 

Schließlich ist da die Grenzöffnung von 2015, bei der Merkel wiederum ohne Not ein Millionenheer unterqualifizierter Illegaler ohne Kontrollen einwandern ließ und damit die Briten, denen von der EU-Kommission mit deutscher Rückendeckung keinerlei Ausnahmen von der Sozialunterstützung von Immigranten zugestanden wurden, so erschreckte, daß sie im „schwarzen Juni“ 2016 knapp für den Brexit stimmten. Damit verschieben sich nicht nur wie bisher im EZB Rat sondern auch in der EU insgesamt die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der ausgabenfreudigen protektionistischen Südländer, die trotz oder wegen all jener Transfers es nicht schaffen, ihre verlorene industrielle Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Schließlich thematisiert Sinn die Unterdeckung des deutschen Rentensystems, das in Ermangelung von staatlicher und eigener Kapitaldeckung ab 2030 die kinderarmen „Babyboomer“ hart und unerwartet treffen wird.

Wer soviel berechtigte Kritik an der Berliner Politik publikumswirksam und fundiert austeilt, macht sich damit nicht nur Freunde. Obwohl er seine Kritik immer politisch korrekt mit Bekenntnissen zum Weltfrieden, zur Internationalität und zu Europa unterfüttert, wurde Sinn doch immer wieder zum Opfer von Kampagnen, die ihm vom herzlosen Neoliberalismus bis zum Antisemitismus alles mögliche haltlos unterstellten und ihn medial als „von Sinnen“ oder „Unsinn“ denunzierten. 

Dabei halfen ihm seine unstreitige wissenschaftliche Reputation, sein weites intensiv gepflegtes Beziehungsnetzwerk von internationalen Ökonomen und nicht zuletzt die geistigen und publizistischen Ressourcen des von ihm – auch mit Hilfe der Bayerischen Staatsregierung – wiederbelebten führenden Ifo-Instituts und seine Vernetzung mit Wirtschaft und Wissenschaft, der denunziatorischen Kritik und den öffentlichen Pöbeleien zu widerstehen.

Diese spannenden Erfahrungen und Einsichten hat Sinn einmal mehr sehr voluminös ausgebreitet. Zwar mag man kritisch anmerken, daß dabei Wiederholungen sicher oft unvermeidbar waren, oft auch die Zeitebenen unvermittelt wechseln, manche Passagen wie diktiert wirken und gar manches Detail seiner exotischen Reiseerfahrungen, kulinarischen Neigungen oder akademischen Konferenzen, ihre Vereinsmeierei und weitschweifigen Debatten nicht unbedingt jeden Leser faszinieren werden, so bleibt doch in Summe eine bis zur letzten Seite lohnende und sehr aufschlußreiche Lektüre.

Hans-Werner Sinn: Auf der Suche nach der Wahrheit. Autobiografie. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2018, gebunden, 672 Seiten, Abbildungen, 28 Euro