© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Die Liebe keimt langsam
Schüchterne Leidenschaftlichkeit: Hans Weingartner zeigt in seiner Filmromanze „303“ die naturgemäße Annäherung zweier Menschen
Sebastian Hennig

Viele halten sich heute für unfähig, mit einem anderen Menschen eine längere Bindung einzugehen. Paradoxerweise fällt es ihnen dagegen leicht, mit jedem beliebigen Zeitgenossen sogleich in den Modus eines vertraulichen Gesprächs zu fallen. Da ist keine staunende Scheu geblieben, aus der sich langsam Nähe entwickelt. Eine grundsätzliche Gleichgültigkeit kleidet sich in jäh aufflackerndes Interesse füreinander. In der Szenekneipe oder dem Hostel ziehen zufällige Bekanntschaften jede Nähe gierig ein und setzen sich mit Fragen zu, um bald danach kaum noch Notiz voneinander zu nehmen. Daraus kann aber keine Traulichkeit erwachsen. Diese keimt allmählich auf einem Substrat aus Skepsis, Höflichkeit und Vorsicht heran.

Diesen sachten Vorgang zeigt der neue Kinofilm „303“ des österreichischen Regisseurs Hans Weingartner. Zwei junge Menschen versuchen sich zu entkommen und verstricken sich dabei mit einer schüchternen Leidenschaft immer mehr ineinander. Die Absicht seines Films verkündet der Regisseur unmißverständlich: „303 ist sozusagen der ‘Anti-Tinder’ Film. Statt drei Sekunden Wisch-und-Weg, die langsame Annäherung zweier Seelen.“

Die Tausende von Kilometern, die sie von Berlin nach Portugal zurücklegen, messen kurz im Vergleich mit der Weite des Gesprächsverlaufs, der Jule (Mala Emde) und Jan (Anton Spieler) zusammenführt. Darin liegt die eigentliche Handlung des Films, die von wenigen äußeren Anlässen gehalten wird. Wir erleben, wie die Studentin durch die Prüfung in Biochemie fällt und erfahren, daß sie von einem Alex ein Kind erwartet. Der hockt im fernen Portugal in einer ländlichen Kommune über seiner Doktorarbeit und weiß von nichts. Jules Mutter drängt zum Schwangerschaftsabbruch.

In dieser Verfassung besteigt sie ein altes Wohnmobil, dessen Typennummer dem Film seinen Titel gibt, um Alex aufzusuchen. Stattdessen wird dieser Weg zu einem raffinierten Umweg an die Seite von Jan, den sie auf einer Raststätte aufliest. Nach dem Politikstudium wurde ihm ein Stipendium verweigert, weil der Stiftung einige in seiner brillanten Abschlußarbeit geäußerte Ansichten mißfallen haben. Nun will er seinen Erzeuger in Nordspanien treffen, eine Urlaubsbekanntschaft seiner Mutter.

Nachdem ihn seine Mitfahrgelegenheit versetzt hat, nimm ihn Jule in ihrem Wohnmobil auf. Während sie plaudern, berührt er in einem Anfall negativen Zartgefühls einen heiklen Punkt bei ihr. Ohne zu wissen, daß ihr Bruder, in dessen Auto sie gerade fahren, sich vor einem Jahr das Leben genommen hat, räsoniert er: „Das klingt vielleicht komisch, aber ich finde Selbstmord ehrlich gesagt ziemlich egoistisch. Ich mein, klar, für sich selbst hat man die Probleme gelöst. Aber die Angehörigen leiden halt extrem darunter.“

Deutsche Sprache eignet sich zum Philosophieren

Dieser Fauxpas ist die Erstverschlimmerung einer homöopathisch einsetzenden Verliebtheit. Gleichgültige Menschen würden sich nie soweit versteigen. Erst einmal wird Jan hinauskomplimentiert. Stattdessen läßt Jule abends auf dem Rastplatz leichtfertig einen anderen Mann (Arndt Schwering-Sohnrey) in ihre rollende Hütte ein. Als der zudringlich wird, weist ihn der zufällig auf dem selben Platz gestrandete Jan in die Schranken. Am nächsten Morgen ist der Retter wieder in Gnaden als Mitfahrer aufgenommen, und das Gespräch wie die Reise werden fortgesetzt. In Köln fragt Jule dann nur kurz, ob Jan noch weitere fünfhundert Kilometer mitfährt, was er sogleich bejaht. 

Die Finanzierungsschwierigkeiten ließen Weingartner zeitweise erwägen, seinen Dialogfilm auf englisch zu realisieren. „Aber die deutsche Sprache eignet sich einfach tausendmal besser zum Philosophieren. Sie ist viel präziser und eleganter. Du kannst fast jedes Wort mit einem anderen zu einem neuen Wort kombinieren. Dadurch hast du nicht nur einen Wortschatz von 50.000, wie im Englischen, sondern von potentiell einer Milliarde Worten.“

In einem Zeitraum von über zwanzig Jahren hat er dreihundert Seiten Dialoge zusammengetragen. Aus diesen wächst das geschwisterliche Gefühl zwischen den beiden heran. Als Deutschland hinter ihnen liegt, verlassen sie die Autobahn und fahren über französische Landstraßen. Die beiden theoretisieren über alles, was sie ganz praktisch betrifft. In der Spannung zwischen den Worten und den Gedanken wächst die Neigung füreinander. Die üblichen Kraftausdrücke vertrocknen zu gleichgültigem Zierat, und zwischen den Sätzen beginnt Unausgesprochenes zu glänzen. Die Liebe wird nicht behauptet. Sie keimt langsam zwischen ihnen auf und verzweigt sich bis zur Erfüllung.

Die leise Radikalität dieses Film ist entzückend. Der Regisseur gesteht, es gebe „nichts Radikaleres, als sich hundertprozentig auf einen anderen Menschen einzulassen“. Dabei wollte er vor allem verbreiten, was Jan und Jule reden, „und das ist natürlich hochpolitisch. Was man nebenher macht, gelingt ja immer besser, weil es aus der Absichtslosigkeit entsteht, daher nicht-intentional – ich wollte keinen Liebesfilm machen, vielleicht ist es deswegen ein ganz guter geworden.“ Die geographischen Stationen der Reise drängen sich nicht auf, und doch ist es nicht zufällig, in welchem Raum das Paar sich findet. Der Regisseur gerät darüber ins Schwärmen. „Diese dichte Vielfalt an Landschaften, Sprachen und Kulturen, die man in Europa grenzenlos bereisen kann, das ist einzigartig.“

Kinostart am 19. Juli 2018

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