© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Zum Gedächtnis des 20. Juli: Die Tugenden des Soldaten und die des Bürgers
Immer für Recht und Freiheit
Klaus von Dohnanyi

Frau Bundesministerin der Verteidigung, Herr Generalinspekteur, sehr geehrte Soldatinnen, Soldaten und Rekruten, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn jetzt für Sie alle, liebe Soldatinnen, Soldaten und Rekruten, das feierliche Gelöbnis gesprochen sein wird, werden Sie spüren, daß diese Stunde mehr war als eine Feierstunde in festlicher Umrahmung. Denn dieser Schwur, Ihr feierliches Gelöbnis, ist ja nicht einfach eine Art Paßwort, um Ihnen Zugang zu ermöglichen zu neuen Aufgaben, zu einem neuen Beruf. Ihr Gelöbnis ist ein Versprechen, ist Verpflichtung und ist Verzicht.

„Der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen“ werden Sie geloben, um „tapfer Recht und Freiheit des deutschen Volkes zu verteidigen“, so werden Sie schwören. Was heißt „treues Dienen“ für den Soldaten? Und was bedeutet für den Soldaten, Recht und Freiheit des deutschen Volkes „tapfer zu verteidigen“?

„Dienen“ ist immer auch Verzicht auf Selbstbestimmung, heißt immer auch Gehorsam und Disziplin. Und „Treue“ bedeutet immer auch, manche Entscheidung vertrauensvoll einem anderen zu übertragen. Und schließlich „Verteidigen“: Für den Soldaten heißt das im äußersten Fall, auch sein eigenes Leben für das Leben und die Freiheit anderer einzusetzen; ja, eventuell sogar, Befehle geben zu müssen, die einen anderen, einen Untergebenen, zum Einsatz seines Lebens verpflichten.

Wir alle – Frau Bundesministerin hat soeben sehr eindrucksvoll darauf verwiesen – leben in einer freien Gesellschaft, sind freie Bürgerinnen und Bürger unseres Vaterlandes Deutschland und Europas. Und doch geloben Sie heute freiwillig, „treu zu dienen“, Sie schwören damit auch Gehorsam zu Befehlen Ihrer Vorgesetzten und Disziplin in der bestehenden Ordnung. Frei werden Sie zwar bleiben, weil Sie ja freiwillig auf einen Teil Ihrer Freiheit verzichten. Aber dennoch werden Sie den Widerspruch zwischen gewohnter Freiheit in der Gesellschaft und Gehorsam und Pflicht im Dienst des Soldaten immer wieder spüren.

Wie weit kann und darf aber dieser Verzicht auf Ihre bürgerliche Freiheit gehen? Ihr Gelöbnis – auch darauf hat Frau Bundesministerin hingewiesen – findet nicht zufällig an diesem Tag, dem 20. Juli 2015, und auch nicht zufällig an diesem Ort im Bendlerblock statt. Denn am 20. Juli 1944 trafen sich, wenige hundert Meter von hier, entschlossene Männer zu einem Aufstand gegen ihre Regierung, Offiziere, die auch einen Eid geschworen hatten, damals auf den Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht, Adolf Hitler. Dieser Eid galt ihm persönlich, er war bedingungslos und enthielt, anders als Ihr Gelöbnis heute, keinen Schwur auf Recht und Freiheit. Die Allgewalt des totalitären „Führers“ nahm das letzte Wort, das gültige Urteil über Recht und Unrecht, über Gut und Böse allein für sich in Anspruch. Allein auf diesen Mann, sein Wort, seine Befehlsgewalt, hatten diese Männer des 20. Juli 1944 zuvor einen Eid schwören müssen. Ein ungeheuerliches Gelöbnis – aber ein Eid nichtsdestoweniger.

Doch Hitler mißbrauchte seine Macht, ordnete ungeheuerliche Verbrechen an, ließ politische Gegner verfolgen, Millionen von „jüdisch“ geborenen Menschen vertreiben oder töten, zerstörte benachbarte Länder, ermordete ihre Bürgerinnen und Bürger und opferte schließlich bedenkenlos sein eigenes Volk. Nun spätestens wußten die Männer und einige ihrer Kameraden draußen an den umkämpften Fronten Europas: Solange Adolf Hitler lebte und Befehlsgewalt ausüben konnte, würde es keine Chance für die Beendigung des Schreckens geben können. Also entschieden sie sich – es hatte vergebliche Versuche, Hitler zu beseitigen, schon früher gegeben –, ihren Oberbefehlshaber, den Mann, auf den sie ihren Eid geleistet hatten, zu töten. Sie brachen ihren Eid, um einer höheren Pflicht zu folgen, der Wiederherstellung von Recht und Freiheit.

Sind aber die Tugenden des Soldaten nicht Gehorsam, Disziplin, Treue und Kameradschaft? Wo setzen die Tugenden Gehorsam und Treue der eigenen Verantwortung die Grenzen? Könnte sich jeder von Ihnen, die Sie jetzt „treues Dienen“ schwören werden, jederzeit für die eigene Freiheit und Verantwortung anstatt für Gehorsam und Unterordnung entscheiden? Und gegen einen Befehl vielleicht? Auch mitten im Kampf? Wie wäre das zum Beispiel in Afghanistan gewesen? Was würde das für die Truppe im ganzen bedeuten? Was für die Kameraden?

Kein Soldat kann Gehorsam und seinen persönlichen Einsatz leichten Herzens verweigern, nur weil er diesen Befehl selbst für falsch hält, ja sogar auch dann kaum, wenn er ihn im Einzelfall für ungerechtfertigt hält. Doch wo ist die Grenze? Wer zieht sie?

Aus heutiger Sicht scheint die moralische Entscheidung der Männer des 20. Juli 1944 recht einfach: Gebrochen hatte Adolf Hitler selbst den Eid, den er als Reichskanzler einst geschworen hatte. Und wer durfte noch Gehorsam fordern gegenüber einem offenkundigen Verbrecher? Aber weil damals der Eid in der Gesellschaft noch eine viel größere, formale Bedeutung hatte, besonders im Wertekanon der Soldaten und Offiziere, bedeutete die Entscheidung der Männer des 20. Juli 1944 doch einen tiefgehenden Konflikt. Dies war übrigens ein Grund dafür, daß manch tapferer und anständiger Offizier meinte, diesen Schritt nicht mitgehen zu dürfen. Und immer größer, wenn wir dies bedenken, werden dann in unseren Augen heute die Männer, die sich damals dennoch zur Tat entschlossen.

Auch heute bedeuten Eid und der Schwur für „treues Dienen“ eine ethische und moralische Bindung, die im Ernstfall über Leben und Tod vieler Menschen entscheiden kann. Ihr Gelöbnis wäre ja bedeutungslos, könnte man es so ohne weiteres nach eigenem Urteil und Gutdünken beiseite schieben. Gerade weil der Beruf des Soldaten auch bei uns wieder mehr zu dem geworden ist, was er immer war: ein Beruf, der zur Verteidigung von Recht und Freiheit seines Vaterlandes eventuell das eigene Leben und das seiner Kameraden einsetzen muß. Das aber ist wiederum ohne Treue, ohne Gehorsam und Disziplin nicht möglich.

Kein Soldat, und schon gar nicht ein Berufssoldat, kann Gehorsam und seinen persönlichen Einsatz leichten Herzens verweigern, nur weil er – oder sie – diesen Befehl selbst für falsch hält, ja sogar auch dann kaum, wenn er ihn im Einzelfall für ungerechtfertigt hält. Doch wo ist die Grenze? Wer zieht sie? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Entscheidung der Männer des 20. Juli 1944 für Sie, die Soldatinnen und Soldaten heute?

Kein anderer Beruf, keine andere Aufgabe, kann so unmittelbar und so folgenschwer mit derart grundsätzlichen moralischen und ethischen Fragen konfrontiert werden, wie derjenige, den Sie nun beginnen. In meiner Bibliothek fand ich bei der Vorbereitung zu dieser Stunde den Abdruck einer Rede von Major Trentzsch, die dieser vor dem ersten Lehrgang für höhere Offiziere der Bundeswehr am 20. Juli 1956 in Sonthofen gehalten hat. Major Trentzsch versuchte damals, kaum ein Jahrzehnt nach dem 20. Juli 1944, die inneren Konflikte der Attentäter nachzuvollziehen und erkannte die Gewissensnot, die viele von ihnen umgetrieben hatte.

Daß dann aus einer einzigen Einheit – dem Infanterieregiment 9 aus Potsdam, das übrigens zum Teil auch ein Vorläufer des heute hier vertretenen Wachbataillons war –, daß 19 Männer der am 20. Juli Beteiligten diesem Regiment entstammten, bleibt bemerkenswert. Ihre religiöse Bindung hatte offenkundig eine große Rolle gespielt. Trentzsch meinte 1956 außerdem, es sei „ja ein besonderes Wesensmerkmal des Offiziersberufs, daß der Offizier jederzeit bereit und befähigt zu verantwortungsbewußten Entscheidungen sein muß“. Sie treten also, liebe Rekruten, eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe an.

Doch das Bild des Soldaten hat sich nach 1945 auch gewandelt. Als die Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg wieder entstand – und das war damals sehr umstritten! Ich erinnere mich gut an den Streit in den Parteien und zwischen den Parteien –, hatte sich zuvor, schon 1950, eine Gruppe von ehemaligen Offizieren getroffen und beraten, wie man in einer zukünftigen deutschen Armee mit Gehorsam und Eid umgehen wird. Zu diesen Offizieren gehörte auch Oberst Wolf Graf Baudissin. Baudissin hatte im Generalstab von Feldmarschall Rommel in Afrika gedient und war dort 1941 in Gefangenschaft geraten. Er konnte also – obwohl auch er dem legendären Infanterieregiment 9 angehörte – am 20. Juli 1944 nicht dabeisein.

Mir scheint allerdings, daß in unserem zivilen Leben die Entscheidungen der Bürger heute allzu oft und allzu einseitig zugunsten der eigenen Interessen gefällt werden. Das wird Ihnen in Zukunft vielleicht sogar stärker auffallen, wenn Sie nun im Dienst stehen.

Aber seinen Namen, liebe Soldatinnen und Soldaten und Rekruten, sollten Sie sich dennoch in Erinnerung behalten, denn seine und seiner Kameraden Ziele waren es schon 1950, den Soldatenberuf mit den Werten des demokratischen Bürgers zu verbinden. Baudissin entwarf Richtlinien für ein Konzept der sogenannten „inneren Führung“ – ein Wort, das Ihnen auch immer wieder begegnen wird – als eine große Reform für die Ausbildung und für die Ausübung der Befehlsgewalt in der Bundeswehr. So sollte aus dem „Soldaten“ zukünftig ein „Bürger in Uniform“ werden – ein Soldat also, der die demokratischen Tugenden des Rechtsbewußtseins, der Eigenverantwortung und der solidarischen Mitmenschlichkeit auch als Soldat nicht hinter sich lassen würde. Dieses neue Verständnis des Soldatenberufs verdanken wir letztlich zwar Baudissin, aber ohne die moralische Haltung der Männer des 20. Juli, die wir heute ehren, wäre es zu dieser Reform kaum gekommen.

Aber geht das überhaupt: „Bürger in Uniform“? Sie werden den Konflikt immer wieder spüren: Denn einerseits erwarten wir von Ihnen die alten Tugenden des Soldaten: Mut, Treue, Kameradschaft, Disziplin. Und, im entscheidenden Augenblick, auch die Bereitschaft zum persönlichen Opfer. Die Gedenkstätte, vor der wir hier auch stehen und mit der wir Ihre gefallenen Kameraden der Einsätze unserer Tage ehren, ist eine ständige Erinnerung und Mahnung an diese Opferbereitschaft des Soldaten.

Aber es sind heute andererseits – und daran erinnert wiederum die Nähe zur „Gedenkstätte 20. Juli“ nur wenige hundert Meter entfernt – auch die bürgerlichen Tugenden, die der Soldat als „Bürger in Uniform“ bewahren soll: kein blinder Gehorsam mehr, keine unmenschliche Disziplin, keine bedenkenlose Treue. Und Verantwortung immer für Recht und Freiheit – des ganzen Volkes, aber auch in der unmittelbaren Nähe.

Doch wann darf der „Bürger in Uniform“ aus dem Soldatenrock heraustreten? Diese Entscheidung wird Ihnen in Ihrem Leben als Soldat niemand abnehmen können. Wir alle müssen dafür ja täglich üben: Zivilcourage zu zeigen und lernen, diese mit Verantwortung in der Gemeinschaft, mit Solidarität und Disziplin zu verbinden. Also mutig zu sein, seine Meinung zu sagen und doch sich in die Ordnung, die es gibt, fügen.

Mir scheint allerdings, daß in unserem zivilen Leben die Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger heute allzu oft und allzu einseitig zugunsten der eigenen – man kann auch sagen der egoistischen – Interessen gefällt werden. Das wird Ihnen in Zukunft vielleicht sogar stärker auffallen, wenn Sie nun im Dienst stehen. Sie, Soldatinnen, Soldaten und Rekruten, werden aber nicht nur „Bürger in Uniform“, sondern im Kreise von Familie und Freunden immer auch „Soldaten in Zivil“ sein. Vielleicht können Sie Ihrer Umgebung dann auch etwas vom Geist der verantwortlichen Gemeinschaft vermitteln, die Ihr Leben als Soldaten besonders stark prägen wird.

Entscheidungen, wie die Männer des 20. Juli sie trafen, werden Sie nicht mehr treffen müssen, werden von Ihnen kaum verlangt werden. Denn im Gegensatz zu den Zeiten, die schließlich Hitler an die Macht gebracht hatten, haben wir heute eine stabile, wehrhafte und wachsame Demokratie. Allerdings braucht auch diese die tägliche Erneuerung durch das offene Bekenntnis zu ihren Werten.

Ihnen werden vielleicht andere Konflikte des Gehorsams und der Disziplin begegnen. Ich will nur ein Beispiel nennen: Wir wachsen immer schneller in eine Gesellschaft hinein, wo viele in der Bundeswehr – Soldaten und Offiziere – ursprünglich aus anderen Ländern und Kulturen stammen. Da könnten, zum Beispiel, Benachteiligungen oder auch Diskriminierungen vorkommen, von seiten Ihrer Kameraden, aber auch eventuell von seiten Ihrer Vorgesetzten. Hier hieße es dann, sich klar aufzustellen und im Rahmen von Gehorsam und Disziplin deutlich Zivilcourage zu zeigen – eben als Soldat auch ein guter „Bürger in Uniform“ zu sein. Wenn so etwas vorkommt, dann erinnern Sie sich einfach des Mutes der Männer vom 20. Juli 1944 und sagen zu sich selbst: Wie gut haben wir es heute, daß unser ziviler Mut so viel geringere Risiken birgt, als es die Männer am 20. Juli 1944 erfahren und auf sich nehmen mußten!

Liebe Soldatinnen, Soldaten und Rekruten, wir brauchen Sie also in beiden Welten – als „Bürger in Uniform“ und als „Soldaten in Zivil“. So sind wir stolz auf Sie und dankbar für Ihre große Bereitschaft, dem deutschen Vaterland in Treue zu dienen: Denn Recht und Freiheit sind unseres Glückes Unterpfand!

Ich wünsche Ihnen allen Erfüllung in diesem anspruchsvollen Beruf und Gottes Segen auf allen Ihren Wegen.






Dr. Klaus von Dohnanyi, Jahrgang 1928, ging 1968 in die Politik und ist seit 1957 SPD-Mitglied. Der ehemalige Bundesminister war zwischen 1981 und 1988 Hamburgs Erster Bürgermeister. Als solcher ist Klaus von Dohnanyi der Allgemeinheit weithin im Gedächtnis geblieben. Sein Vater Hans von Dohnanyi wurde im April 1945 als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus auf Befehl Hitlers umgebracht. Nebenstehende Rede, die wir mit freundlicher Genehmigung des Urhebers abdrucken, hielt von Dohnanyi anläßlich des Gelöbnisses am 20. Juli 2015 als Ehrengast im Bundesministerium der Verteidigung im Bendlerblock in Berlin.

Foto: Immerwährendes Vermächtnis und Auftrag: Ein Soldat des Wachbataillons der Bundeswehr im Innenhof des Bendlerblocks neben der Gedenktafel für die am 20. Juli 1944 erschossenen Wehrmachtsoffiziere