© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Widerstand im Rückzugsraum
Im Sommer 1943 formulierten Mitglieder des Kreisauer Kreises ihre Vorstellungswelten über ein Deutschland nach der Beseitigung Hitlers
Stefan Scheil

Angesichts der überall sich vollziehenden Katastrophe ziehen sich Menschen auf das Land zurück und führen dort Gespräche über Hoffnungen und ein gutes Leben, das es möglicherweise unter anderen Umständen geben könnte. Solches Verhalten kam in der europäischen Geschichte immer wieder vor und wurde seit Giovanni Boccaccios „Decamerone“ aus dem hohen Mittelalter ein Thema der Literatur.

Nun war es nicht nur Literatur, was zwischen 1940 und 1944 im schlesischen Kreisau, knapp zehn Kilometer südöstlich von Schweidnitz, produziert wurde. Auf dem Landsitz der damals legendären preußischen Familie der Moltkes kamen aber unter dem Eindruck des laufenden Krieges viele Personen aus ganz unterschiedlichen Milieus zusammen, um offen zu sprechen und vorbehaltlos über die Zukunft Deutschlands nachzudenken. Vertreter der Kirchen waren darunter, ebenso des Großbürgertums, solche aus den Reihen der Offiziere und der Gewerkschaften. Ob Eugen Gerstenmaier, Adam von Trott zu Solz, Alfred Delp, Julius Leber oder Helmuth James von Moltke als Gastgeber, es ließen sich viele Namen nennen, die hier Kontakte pflegten. Nicht immer konnte dabei Einigkeit erzielt werden, der Natur der Sache nach. 

Ein föderaler Staat mit patriarchalischer Struktur

Kreisau als Landsitz wurde bewußt als Tagungsort gewählt, zum einen wegen der größeren Sicherheit gegenüber den stärker überwachten Städten wie Berlin und aufgrund des Umstands, daß die Moltkes ohnehin ein großes Haus mit vielen Gästen führten, Treffen also kein Aufsehen erregten. Zum anderen aber spielte es eine Rolle, daß dem souveränen und dem Land verbundenen Menschen im politischen Denken der Kreisauer prinzipiell eine bedeutende Rolle zugedacht war. „Unabhängige und kulturell hochstehende Menschen“ sollten das Land bewohnen und „durch ihre Lebensweise ein hinreichendes Gegengewicht gegenüber den anderen Teilen des Volkes, insbesondere der gewerblichen Wirtschaft“ bilden. 

So stand es 1942 in einem jener Kreisauer Entwürfe, die Moltkes Frau Freya sorgfältig im Haus versteckte, sicherheitshalber ohne Mitwisser und an einem Ort, den nur sie kannte. Sie sind deshalb erhalten geblieben, allerdings mußte das Versteck auch nie die Probe einer Hausdurchsuchung bestehen. Die Moltkes entgingen sowohl der Sippenhaftung wie einer solchen Fahndungsmaßnahme, selbst nach dem 20. Juli 1944.

Ein föderaler Staat sollte es werden, das in Kreisau entworfene Deutschland. Moltke habe immer mal wieder eine entsprechende Landkarte halbamtlichen Charakters bei sich gehabt, so haben viele Zeitzeugen berichtet, und nach seiner Verhaftung beschwerten sich die Berichte der SS über dieses Detail. Er hätte sich die Vorlage unrechtmäßig angeeignet. Wie auch immer, es soll darauf ein Deutschland in Form von zwölf größeren, aber relativ gleichmäßig verteilten territorialen Einheiten skizziert gewesen sein. Also faktisch ein Deutschland ohne Preußen, wie es im ersten Verfassungsentwurf der Weimarer Republik 1919 ebenfalls vorgesehen war. 

In seiner gegenwärtigen Form sei Deutschland offenbar eine „Herausforderung“ gegenüber dem Rest der Welt. Um diesen Umstand zu ändern, sollte dessen innere Struktur reformiert, gleichwohl aber die deutsche Einheit bewahrt werden. Ein im Oktober 1942 nach einer Tagung verabschiedeter Entwurf ließ das gleich zu Beginn anklingen: „Das Reich ist die oberste Führungsmacht des deutschen Volkes. In seiner politischen Gestalt müssen sich echte Autorität und echte Mitarbeit und Mitverantwortung des Volkes verwirklichen. So steht auf der natürlichen Gliederung des Volkes Familie, Gemeinde, Landschaft. Der Reichsbau folgt den Grundsätzen der Selbstverwaltung. In ihr vereinigen sich die sittlichen Werte der Freiheit und persönlichen Verantwortung mit den Erfordernissen von Ordnung und Führung. Dieser Aufbau will die Einheit und die zusammengefaßte Führung des Reiches sichern und seine Eingliederung ist die Lebensgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen.“

Dieser allgemeinen Einleitung folgten auch detaillierte Vorgaben. Als wahlberechtigt sollten Deutsche wie bisher auch ab 21 Jahren gelten, als wählbar ab 27 Jahren. Vorgesehen war ein Stimmgewicht für jede Person, denn „Familienoberhäupter“ sollten für „jedes nicht wahlberechtigte Kind eine zusätzliche Stimme“ erhalten. Allerdings schlugen an dieser Stelle die Erfahrungen der Weimarer Zeit und des Kaiserreichs zu Buche: Auf Kreisebene sollte es mit den allgemeinen Wahlen bereits ein Ende haben. Die „Landschaft“, womit nach altem Wortgebrauch nicht die sichtbare Gegend, sondern die darin lebenden Menschen gemeint waren, hatte damit die Souveränität über ihre Vertretung.

Mitglieder der Landtage sollten im weiteren aber von den Kreistagen, Mitglieder des Reichstags aus den Reihen der Landtage bestimmt werden. Der Reichstag schließlich hätte für je zwölf Jahre einen „Reichsverweser“ als Staatsoberhaupt zu wählen, der das Reich nach außen vertreten und den Oberbefehl über die Streitkräfte haben sollte. Reichskanzler nebst Regierung seien im Einvernehmen von Reichstag und Reichsverweser zu ernennen und zu entlassen. Subsidiarität sollte auf allen Ebenen gewährleistet sein, also jede Instanz so viel regeln dürfen, wie sie sinnvoller Weise regeln konnte.

Vorbei gewesen wäre es mit den Wahlschlachten moderner Massendemokratie, das staatliche System hätte als vergleichsweise statische Angelegenheit agiert. Als geistige Grundlage für den Staatsaufbau war dem Christentum eine überragende Rolle zugedacht, Ziel aller Wirtschaft sollten folgerichtig weder Effizienz noch Gewinn sein, sondern der Mensch. Schließlich sei Deutschland in eine europäische Friedensordnung einzubetten, in der unter teilweise Abgabe staatlicher Souveränität die „freie und friedliche Entfaltung nationaler Kultur“ zu gewährleisten war. 

Soweit in Kreisau „Widerstand“ geleistet wurde, war es im Rahmen solcher Pläne vorwiegend ein geistiger, kein direkt politischer. Von den Staatsstreichplänen Carl Friedrich Goerdelers und dem Umfeld des 20. Juli wußte Helmuth von Moltke in groben Zügen, vor allem über enge Kontakte Peter Graf Yorck von Wartenburgs zum feurigen Attentatsbefürworter Fritz-Dietlof von der Schulenburg. Moltke hielt jedoch nichts davon, weder intellektuell noch praktisch. Goerdeler sei ein „Reaktionär“, der keine hinreichenden politischen Perspektiven zu bieten habe. Ein Staatsstreich würde angesichts der verbreiteten Hitlertreue der Wehrmacht mit Sicherheit im Bürgerkrieg enden, zudem mußte wie 1918 erneut der Eindruck entstehen, das deutsche Heer sei von hinten erdolcht worden. 

„Werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben“

An manchen Stellen wirkt diese Geisteshaltung abgehoben, vielleicht sogar ein wenig eitel. Die Kreisauer hielten einen Irrweg Deutschlands für die alleinige Ursache der kommenden Katastrophe, die dann aus christlicher Perspektive eine Art Sühne darstellen sollte. Warum nun gerade die Zufallsauswahl der Ostdeutschen zum besonderen finalen Opfer herangezogen werden sollte und in welcher Weise die Sieger eigentlich moralisch berechtigt waren, solche Sühne einzufordern, diese Fragen wurden in Kreisau weniger erörtert. 

Kategorien persönlicher Schuld fanden sich auf die „Person“ Deutschland übertragen und die Kriegsgegner, die gerade ihre Panzer anrollen ließen, zum göttlichen Vollzugsinstrument erhoben. Zweifellos hat dies zum Nachruhm des Kreisauer Kreises beigetragen, ist er doch unter dieser Alleinschuldperspektive umfassend kompatibel mit den herrschenden bundesrepublikanischen Vorstellungen über den Ablauf der Geschichte und die zu ziehenden Konsequenzen.

Ab Anfang 1944 verhaftet, wurden nach dem 20. Juli 1944 viele Mitglieder des Kreisauser Kreises verurteilt und hingerichtet, teilweise trotz fehlender aktiver Unterstützung für den Staatsstreich. Der Urteilsbegründung des Volksgerichtshofs gewann Helmuth von Moltke grimmigen Sarkasmus ab. Nun sei es amtlich, „wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben“. Aber dadurch sei man zugleich wenigstens offiziell „aus dem Goerdeler-Mist raus“, dem Staatsstreich. Insofern blieb Kreisau am Ende genau dies: ein Ort des Nachdenkens und der Gespräche über Möglichkeiten des Lebens angesichts der Katastrophe. Ein nicht unbedeutender Teil der europäischen Geschichte.