© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Auf der Suche nach dem Geist des Ortes
Eine Stippvisite durch die südlichen Landkreise des schönsten Freistaats der Welt / JF-Reporter Hinrich Rohbohm hörte das Watzmann-Echo, genoß eine Maß auf dem Volksfest und geriet in den Nebel des Zugspitzgipfels
Hinrich Rohbohm

Wen Gott lieb hat, den läßt er fallen in dieses Land.“ So beschrieb der bayerische Heimatschriftsteller Ludwig Ganghofer vor mehr als hundert Jahren das Berchtesgadener Land mit seinem Königssee. Eine Region, die nicht nur von Auswärtigen als die schönste Landschaft Bayerns bezeichnet wird und deren malerische Postkartenkulisse Jahr für Jahr mehr als zwei Millionen Touristen anlockt.

„Der Königssee hat etwas Magisches an sich“, sagt die Mitarbeiterin der Romy-Schneider-Ausstellung, die auf über 100 Quadratmetern mitsamt einem kleinen Kino im historischen „Alten Bahnhof“ in unmittelbarer Nähe zum See untergebracht ist. Seit 2012 sind hier interessante Details zum Leben der berühmten Schauspielerin zu erfahren, die in den fünfziger Jahren mit der Sissi-Trilogie zu Weltruhm gelangte. Und das nicht ohne Grund. Denn Romy Schneider verbrachte ihre Kindheit in Schönau am Königssee, lebte im Haus Mariengrund, nicht weit vom Ausstellungsort entfernt. „Ein Weltstar kehrt heim“, lautet der Titel der 2012 von dem Ehepaar Hans und Martina Klegraefe organisierten Dauerausstellung. Alte Filmposter säumen die Wände im Inneren des Alten Bahnhofs, Fotos aus der Kindheit der Schauspielerin sind ausgestellt. Romy Schneiders Heimatfilme und das Berchtesgadener Land: Das paßt zusammen.

Was aber ist das Magische, das diesen Ort ausmacht? Die Ausstellungsmitarbeiterin muß ein wenig nachdenken. „Es ist die Abgeschiedenheit und unberührte Natur, die hier trotz hoher Besucherzahlen erhalten geblieben ist. Obwohl wir hier ja jeden Tag leben, zieht der Ort auch uns Einheimische immer wieder aufs neue in seinen Bann“, schildert sie. Vor allem die fjordartige Landschaft sorge dafür, daß der See seinen natürlichen Reiz erhalten konnte und zu Recht als Juwel der Alpen gelte. „Es gibt dadurch kaum einen direkten Zugang zum See.“

Lediglich ein schmaler Pfad schlängelt sich die Berge hinauf. Der Malerwinkelweg. Er führt durch eine idyllische Waldlandschaft, steigt kontinuierlich an. Durch das grüne Laub schimmert immer wieder das türkisblaue Wasser des Sees. Hier befindet sich auch das Malerwinkel-Café, von dessen Terrasse aus sich ein phantastischer Blick auf den Anleger, die Bootshütten und den kristallklaren See eröffnet.

„Das Wasser ist so sauber, daß es als Trinkwasser durchgeht“, sagt der Wirt des Cafés. Tatsächlich gilt der Königssee als der sauberste Deutschlands. Wie Spielzeugschiffe erscheinen von hier oben die weißbraunen Boote. Leise gleiten sie elektrisch betrieben dahin, ziehen ihre Bahn durch das smaragdgrün schimmernde Naß. Eines ihrer Ziele ist St. Bartholomä, eine barocke Wallfahrtskapelle, deren zwei Zwiebeltürme, roten Kuppeldächer und schneeweiße Fassade Tag für Tag Tausende Besucher bestaunen wollen. König Ludwig II. rettete die Kapelle einst vor dem Abriß und dem Königssee sein Kleinod.

In den Städtchen machen Einheimische die Kultur

Unterdessen reicht der Malerwinkelweg noch einige Gehminuten weiter bergauf, bis eine der wenigen Aussichtsplattformen den Blick auf den Königssee ungehindert von Bäumen freigibt. Am Horizont ist von hier aus sogar die entfernte Wallfahrtskapelle zu erkennen, mitsamt der steil aufragenden und den See einbettenden Berghänge, die dem Ort seinen Zauber, seine Stille verleihen.

Hier erhebt sich auch die höchste Felswand der Ostalpen, der Watzmann. Mit seinen 2.713 Metern ist es der zweithöchste Berg Deutschlands. Dem Ort verleiht er eine weitere Faszination: das Watzmann-Echo. Mit einer Trompete demonstrieren die Bootskapitäne während ihrer Fahrt über das acht Kilometer lange und bis zu 200 Meter tiefe Gewässer den Widerhall. „Manchmal, wenn man Glück hat, kommt das Echo sogar zweimal zurück“, erzählen Einheimische. Doch das alles sei nichts im Vergleich zu früheren Tagen. „Als das noch erlaubt war, hatte man das Echo mit einem Kanonenschuß erzeugt“, sagt einer von ihnen. Der Knall habe ein bis zu siebenfaches Echo hervorgerufen. Heute ist das nicht mehr gestattet, das Mitführen von Schwarzpulver ist in Deutschland mittlerweile verboten.

Am Anleger steht auch eine in bayrische Trachten gekleidete Gruppe. Einer von ihnen ist Peter Ruhstorfer. Der 71jährige trägt graue Kniestrümpfe, braune Lederhose, eine grüne Weste und einen grünen Hut mit weißer Feder. „Wir sind mit unserem Gebirgstrachtenverein aus Moosburg auf dem Weg zu einem Volksfest“, erklärt er den Grund dafür, daß er in bayerisch-traditioneller Bekleidung unterwegs ist. „Wir führen dort Tänze auf. Auch Schuhplattlern gehört dazu. Wie das geht, mache ich hier jetzt aber nicht vor“, scherzt der Mann. Dabei handelt es sich um jenen typisch bayerischen Tanz, bei dem die aufführenden Personen ihre Hände auf Oberschenkel und Schuhe schlagen und damit ein rhythmisch-klapperndes Geräusch erzeugen.

„Gerade im Sommer haben wir schon sehr viele Termine“, sagt Ruhstorfer. Im Gegensatz zu anderen Regionen hätten touristische Hochburgen wie das Berchtesgadener Land keine Probleme, Nachwuchs für die Trachtengruppen zu bekommen. „Da wollen immer viele mitmachen.“

Die Volksfeste sind ein weiterer farbenfroher Bestandteil bayrischer Tradition. Größtes Volksfest der Welt ist dabei das Oktoberfest. Doch nahezu jeder kleine Ort hat darüber hinaus sein eigenes, ganz spezielles Volksfest, bei dem zumeist die gesamte Dorfgemeinschaft auf den Beinen ist. So wie etwa in Taufkirchen, einer oberbayerischen Gemeinde im Landkreis München. In der vergangenen Woche feierte der Ort sein Fest unter anderem mit einem Umzug. „Das ist natürlich einer der Höhepunkte“, erläutert ein Kutscher, der kurz vor Umzugsbeginn noch einmal seine Pferde striegelt. Männer mit langen weißen Bärten und schwarzer Trachtenuniform haben sich eingestellt, Frauen in weißblauen Kleidern sowie welche mit Dirndl und weißem Federhut. Sie reihen sich ebenso in den Umzug ein wie mehrere Pferdekutschen. Auf einer von ihnen sind alte Bierfässer geladen. Blasmusikanten in Lederhosen sorgen für die musikalische Begleitung des Umzuges. „Jeder Verein im Ort ist in das Fest mit eingebunden“, schildert der Kutscher, der wie die anderen Umzugsteilnehmer unentwegt den Zuschauern am Straßenrand zuwinkt. Und auch die Vereine aus der Umgebung nehmen mit Abordnungen am Fest teil.

Unterdessen hat am Chiemsee der Trachtenverein Grabenstätt zum Bayerischen Abend geladen. Neben Schuhplattlern und Tanzmusik kündigt er auch Goaßlschnalzen an, eine weitere bayerische Tradition, bei der mit einer Fuhrmannspeitsche, der „Goaßl“, möglichst kunstvolle Knallgeräusche erzeugt werden. Sogar Turniere und Meisterschaften werden in dieser Disziplin ausgetragen.

Der Chiemsee ist Bayerns größter See. Und er ist die Wiege des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Vor 70 Jahren tagte hier zwischen dem 10. und 23. August 1948 die verfassunggebende Versammlung im alten Schloß auf Herrenchiemsee, einer von drei Inseln im See, die per Schiff von Prien oder Gstadt aus erreichbar ist. Auf der Insel gibt es weder Autos noch Geldautomaten. Dafür Pferdekutschen und das Neue Schloß Herrenchiemsee, das Ludwig II. nach dem Vorbild von Versailles bauen ließ.

Noch ein weitaus spektakuläreres Schloß ließ der „Märchenkönig“ aus der Landschaft wachsen: Schloß Neuschwanstein bei Füssen. Mit jährlich 1,5 Millionen Besuchern zählt es zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Bayerns. Schon von weitem ist das sagenhafte Bauwerk mit seinen weiß schimmernden Mauern zu erkennen. Ebenso das nicht weit entfernt befindliche Schloß Hohenschwangau, dessen neogotische Fassaden dunkelgelb leuchten. Am Fuße der beiden Schlösser stauen sich die Autos. Überfüllte Parkplätze, lange Schlangen vor den Kartenschaltern.

Eine neue Seilbahn für noch mehr Touristen

„Es ist phantastisch. Es ist, als befände man sich in einem Traum“, schwärmt dessen ungeachtet ein englisches Ehepaar, das seinen Jahresurlaub diesen Sommer in Bayern verbringt. Sie sind mit der Kutsche zum Schloß Neuschwanstein hinaufgefahren. „Wir fühlten uns wie ins vorige Jahrhundert zurückversetzt. Aber auch die Schönheit der Altstadt von Füssen hat uns beeindruckt.“

Über Füssen geht es weiter in Richtung Grainau. Der Ort ist Ausgangspunkt für die Fahrt auf Deutschlands höchsten Berg, die Zugspitze. Erst vor einem halben Jahr wurde hier eine neue Seilbahn errichtet. „Wir können jetzt 120 Personen pro Kabine befördern. Vorher waren es gerade einmal 40“, sagt der Seilbahntechniker. Unter widrigsten Bedingungen war das Bauwerk nach sechs Jahren Planung realisiert worden. Der große Besucherandrang machte eine modernere und effektivere Beförderung auf den 2.962 Meter hohen Gipfel erforderlich. Rund 500.000 Touristen wollen pro Jahr auf den Berg.

Schnell erhebt sich die Gondel vom Boden. Nur wenige Minuten später eröffnet sich ein phantastischer Panoramablick über das Wettersteingebirge. Besonders reizvoll ist der Blick auf den Eibsee, der sich türkisfarben unter der großzügig verglasten Kabine ausbreitet. Sogar in den Gondelboden ist ein Fenster eingelassen, das einen Blick auf den steil abfallenden Berghang freigibt. Für Leute mit Höhenangst ist das definitiv nichts. Plötzlich nimmt der Kabinenbeförderer Anlauf und springt mit voller Wucht auf die in den Boden eingelassene Scheibe. Eine Mischung aus Verblüffung und Entsetzen zeichnet sich in den Gesichtern der Fahrgäste ab. „Sie sehen, die Scheibe ist vollkommen stabil. Trotzdem wird sie zur Sicherheit alle zwei Monate ausgewechselt“, erklärt der Seilbahnmitarbeiter.

Und was geschieht in einer Seilbahn, wenn es stürmt? „Kommt drauf an“, gibt der Mann vielsagend zurück. „Wenn der Wind vom Süden bläst, macht es der Bahn nichts aus, da schützt der Berg. Von Norden wäre es auch noch kein Problem. Schwierig wird es nur, wenn wir starken Seitenwind bekommen. Dann könnten wir mit der schaukelnden Kabine gegen die Stütze knallen, und dann haben wir ein Problem.“ Doch dazu kommt es heute nicht, auch wenn sich in der Ferne ein leises Donnergrollen bemerkbar macht.

Und schon ist die Panoramasicht verschwunden. Dichter Nebel umhüllt die Kabine, durch den nur fahles Sonnenlicht dringt. Dann ist die Seilbahn auf dem Gipfel angekommen. Mehrere hundert Personen arbeiten hier. Bergwacht, Wetterdienst, Restaurant- und Seilbahnmitarbeiter. Draußen, auf der Aussichtsplattform, ziehen Nebelschwaden umher. Der Blick nach unten verfängt sich zunächst in einem milchigen Nichts. Doch wenn die Wolken abziehen, breitet sich einem von hier aus die ganze Pracht der Alpen aus. Schneebedeckte Gletscher lassen dann echte Bergromantik aufkommen. Auf Schildern an den Absperrungen der Aussichtsplattform sind auf den jeweiligen Seiten die einzelnen Gletscher namentlich gekennzeichnet.

Und dann geschieht es: Von einer Sekunde auf die andere lüftet sich der Nebelschleier ein wenig. Berghänge kommen zum Vorschein. Auch das Gipfelkreuz der Zugspitze. Seit 1851 steht es da. Den Pfarrer Christoph Ott hatte es damals geärgert, daß „der erste Fürst der bayerischen Gebirgswelt sein Haupt kahl und schmucklos in die blauen Lüfte des Himmels emporhebt, wartend, bis patriotisches Hochgefühl und muthvolle Entschlossenheit es über sich nehmen würden, auch sein Haupt würdevoll zu schmücken“. Und so wurde im August 1851 das erste Kreuz auf Deutschlands höchstem Berg errichtet. Wer hätte damals auch nur geahnt, daß es reichlich 150 Jahre später zu einem Politikum werden könnte. 2012 war ein moslemisches Gebetshaus am Gipfel errichtet worden. Und im neuen Werbeprospekt der Zugspitze erschien plötzlich ein Foto vom Gipfel ohne das Gipfelkreuz. Was bei bayrischen Kirchenvertretern einen Proteststurm auslöste, weil dies eine Verleugnung der religiösen Wurzeln Bayerns und eine Anbiederung an die moslemischen Gäste darstelle.

Seinen Ursprung im Christentum nahm auch das ehemalige Kloster Seeon, dessen Anlage sich romantisch verträumt in die Seeoner Seenlandschaft schmiegt, nicht weit vom Chiemsee entfernt. Das 994 von Benediktinermönchen gegründete Kloster dient heute unter anderem der CSU-Spitze für ihre legendären Klausurtagungen jeweils am Jahresbeginn, nachdem der Partei das Wildbad Kreuth zu teuer geworden war. Seit 1993 fungiert das Kloster als Kultur- und Bildungszentrum. „Das Kloster Seeon ist nun wieder ein Ort geistiger Auseinandersetzung, ein Ort kultureller Aktivitäten und ein wirtschaftlicher Faktor in der Region“, schreibt die Einrichtung über sich selbst. Kultur und Wirtschaft als Einheit – typisch bayerisch eben.

Fotos: Märchenschloß Neuschwanstein von Osten gesehen: Von König Ludwig II. als rein privater Rückzugsraum gedacht, zieht es jährlich mehr Besucher aus aller Welt an und schreibt, bayerntypisch, schwarze Zahlen; Neues Schloß Herrenchiemsee, Parkansicht: Klein-Versailles im Alpenvorland;  Schuhplattler vom Gebirgstrachtenverein und das Nordlicht: Tradition kleidet gut; Allerorten Volksfeste, hier in Taufkirchen: Lebendiger Beweis, daß die Überlieferung lebt und die Generationen verbindet; Standbild der Gottesmutter auf dem Münchner Marienplatz: Bayerns Schutzpatronin; Beeindruckend und erhaben ist die bayerische Landschaft am Königssee (u.)  wie auf der Zugspitze (o.): Die Harmonie des Panoramas mit St. Bartholomä und Watzmann-Ostwand bezaubert Fremde wie Einheimische