© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Das Öl des 21. Jahrhunderts
Datenkapitalismus: Die Schere zwischen Reicheren und Ärmeren öffnet sich noch weiter
Felix Dirsch

Traditionelle Märkte basieren vornehmlich auf physischen Gütern, die modernen Pendants primär auf Daten. Herkömmliche Orte des Austausches von Angebot und Nachfrage verursachen in starkem Maß eine Fokussierung von Informationen: nämlich auf den Preis. Diese Reduktion geschieht mangels einer größeren Anzahl von Informationsalternativen.

Die Generierung von rasant wachsenden Datenmengen (besonders mittels künstlicher Intelligenz) schafft nun Möglichkeiten, die seit Menschengedenken fehlen. Mit Big Data ist eine weitaus bessere Koordination der Wünsche und Bedürfnisse von Käufern und Verkäufern die Folge. Der Preis wird so relativiert, er ist nur noch ein Datum unter vielen. Die neue Transparenz erscheint kundenfreundlich, jedoch auch die Gefahren einer neuen Unübersichtlichkeit (aufgrund der Informationsüberflutung) sind nicht zu unterschätzen.

Wie soll mit dem Mehrwert umgegangen werden?

Verfeinerte Suchmaschinen sollen helfen, diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. In Zukunft wird dies noch effektiver geschehen. Die Folge wird sein: Auch in Bereichen, wo die meisten Kunden noch geschulter Vermittler bedürfen, etwa im Bankwesen, sind entsprechende Verbesserungen absehbar. Ein weiterer Unterschied liegt auf der Hand: Bei physischen Gütern erhöhen sich in aller Regel bei einer vergrößerten Stückzahl die Kosten.

So ergibt sich für jedes Produkt ab einer gewissen Menge ein Rentabilitätslimit, das sich errechnen läßt. Dies gilt jedoch nicht – oder nur in verschwindend geringem Maße – bei der Erhöhung von Speicherkapazitäten. Der Aufwand infolge von Produktionserhöhung nimmt nur minimal zu. Der US-Ökonom Jeremy Rifkin sprach in diesem Zusammenhang von der „Nullgrenzkostengesellschaft“, die herkömmliche kapitalistische Mechanismen außer Kraft setze. Die beiden Autoren Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge sind mit ihren Publikationen zu Big Data weltweit bekannt geworden. Ersterer, ursprünglich Jurist, machte als Software-Entwickler und Berater eine atemberaubende Karriere, die ihm Lehrstühle in Havard und Oxford einbrachte. In ihrem neuen Buch, das zum 150. Geburtstag des Marxschen Best- und Longsellers „Das Kapital“ auf den Markt gekommen ist und in Anspielung darauf den Titel „Das Digital“ trägt, untersuchen die Autoren die vielfachen Auswirkungen, die der Wandel der Märkte mit sich bringt.

Die Verfasser setzen bei Problemen an, die Marx bereits umgetrieben haben und die heute noch nicht abschließend geklärt sind. Wie soll mit dem Mehrwert umgegangen werden, den die Märkte abwerfen? Wie ist er zu verteilen? An der Schwelle weitreichender Prozesse der Digitalisierung ist zu befürchten, daß sich die Schere zwischen Reicheren und Ärmeren weiter öffnet. Vermehrte soziale Unruhen auch in bisher wohlhabenderen Regionen sind nicht ausgeschlossen. Es ist demnach naheliegend, daß Mayer-Schönberger und Ramge auch das Dauerthema „Bedingungsloses Grundeinkommen“ erörtern. Sie kommen zu einer negativen Einschätzung. Schließlich werde das Geld, als zentraler Faktor infolge der Datenexplosion relativiert, auf diese Weise wieder bestimmend. Einen adäquaten Vorschlag diesbezüglich legen auch sie nicht vor.

Die anstehenden Veränderungen gehen aber über Probleme monetärer Umverteilung hinaus. Nachdem die Technik auf Feldern beherrschend wird, die bis in die letzten Jahrzehnte hinein als genuine Domäne des Menschen gegolten haben, stellt sich die Frage nach dem spezifisch Humanen neu. Herausforderungen ergeben sich insbesondere auf dem Gebiet der Arbeitswelt. Läßt sich die Degradierung des Menschen durch anonyme, aber effektiv handelnde Maschinen vermeiden? Wie wird sich das Verhältnis von Mensch und Maschine einpendeln? Welches Arbeitsvolumen wird zur Verfügung stehen?

Weithin Zustimmung werden Mayer-Schönberger und Ramge erhalten, wenn sie eine grundlegende Ungerechtigkeit in aktuellen Wertschöpfungsprozessen anprangern: Während die Renditen aus Arbeitsleistung und Kapitalanlage (Stichwort: Niedrigzins) tendenziell zurückgehen, steigen die Profite einiger Global players steil an. Wesentlicher Grund ist die Findigkeit von Facebook, Google, Amazon, Apple und Co., Steuerschlupflöcher voll auszunutzen.

Künftige Entkopplung von Arbeit und Einkommen

Die Autoren sind marktwirtschaftlich orientiert; manche brandmarken sie als „Neoliberale“. Insofern sind beide von den Lösungsmodellen, die der diesjährige Jubilar, Karl Marx, empfiehlt, weit entfernt. Jeder Zentralismus und jeder Dirigismus sind ihnen ein Greuel. Der Markt gilt ihnen, wie allen Verfechtern des freien Handels, als ressourcenschonender Mechanismus und sei daher allen anderen Verteilungsarten vorzuziehen. Die vergrößerten Informationsflüsse werden ihrer Meinung zu einer Renaissance marktwirtschaftlichen Denkens führen, das aber nie unumstritten gewesen ist. Am Ende bleibt die Einsicht, daß die Zukunft von Erkenntnis und Wissen bestimmt sein wird – in einer Gesellschaft, die von manchen als „Wissensgesellschaft“ bezeichnet wird, freilich keine umwerfende Schlußfolgerung.

Einige Lösungsvorschläge sind jedoch einer Debatte wert: Egal, ob es sich um die Entkopplung von Arbeit und Einkommen handelt oder um die Möglichkeit, Steuern in Form von Datenvolumen zu zahlen – auch der Staat wird in Zukunft neue Wege gehen müssen, um seine Stellung im digitalen Kapitalismus behaupten zu können. Wenngleich Mayer-Schönberger und Ramge nicht der große Wurf gelungen ist, den manche wohl erwartet haben: Inspirierend ist die neueste Schrift der beiden viel gelesenen Publizisten auf jeden Fall.

Viktor Mayer-Schönberger/Thomas Ramge: Das Digital. Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit, Econ-Verlag, Berlin 2017, 304 Seiten, gebunden, 25 Euro