© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

„Richtige Muslime sind wir gar nicht“
Besuch in Albanien: Ein Land beschäftigt sich mit dem Erbe des Kommunismus und der nationalen Selbstfindung
Claus-M. Wolfschlag

Albanien gilt vielen als muslimischer Brückenkopf. Immerhin sind über 50 Prozent der Bevölkerung Muslime. Doch das täuscht, denn bislang ist das Land noch viel stärker mit dem Erbe des Kommunismus und der nationalen Selbstfindung beschäftigt.

Kommunistenführer Enver Hoxha machte Albanien 1967 zum konsequent atheistischen Staat. Nur noch der kommunistische Personenkult diente als säkulare Ersatzhandlung. Der Bildersturm führte zur Zerstörung zahlreicher Gotteshäuser, zumindest deren Umnutzung als Stall oder Lagerhalle.

Die Et’hem-Bey-Moschee im Herzen Tiranas überstand als Baudenkmal den Furor der Hoxha-Zeit und wurde zum Symbol des Protests. Ohne Erlaubnis der Behörden wurden 1991 die Tore der Moschee geöffnet, und mehrere tausend Menschen strömten dorthin. Einen Monat später wurde das nahe gelegene Hoxha-Denkmal gestürzt.

Betritt man das ab 1794 erbaute Gebetshaus, fallen einem Wandfresken mit lieblichen Landschaftsmalereien auf. Darauf angesprochen, wie es komme, daß so deutlich gegen das islamische Bilderverbot verstoßen wurde, zucken die Wärter mit den Schultern und antworten lächelnd: „So ganz richtige Muslime sind wir doch gar nicht.“ Das soll ausdrücken, daß das Land noch fern jeder religiösen Dogmatik ist.

Kopftuch tragende Frauen findet man im Gegensatz zu westdeutschen Großstädten keine. Wenige Reisende aus dem arabischen Raum bilden die Ausnahme. Viele junge Mädchen tragen kurz geschnittene Hotpants aus Jeansstoff, bauchfreie Shirts und Schnürsandalen. 

Am Badestrand im nordalbanischen Lezha, an dem die Sonnenanbeter eng gedrängt wie in Mallorca die Miet-Liegen besetzt halten, findet sich entsprechend nur eine einzige Besucherin im grellbunten Burkini. 

Die Kosovaren sind stärker islamisch geprägt

Meine Begleiterin Xhilda schüttelt mißfällig mit dem Kopf: „So eine Bekloppte.“ Sie vermutet, daß es eine der zahlreichen Kosovaren ist, die an Wochenenden als Badetouristen an die albanische Küste reisen. 

Überhaupt wären die Kosovaren, die – so Xhilda – ein entsetzliches Albanisch sprächen, stärker islamisch geprägt als die Albaner. Das sehe man oft in Internetdiskussionen. Würden die Albaner islamistische Tendenzen und Terrorakte stets ablehnen, sei diese Haltung bei Diskutanten aus dem Kosovo keinesfalls so eindeutig. 

Der moderne albanische Staat entstand erst 1912 durch den Zerfall des Osmanischen Reiches. Durch die jahrhunderte lange türkische Besetzung kann das Land nicht viel an eigener Geschichte vorweisen. Sie verdichtet sich in drei Personen. 

Zum einen Skanderbeg, der 1468 gestorbene legendäre christliche Kämpfer gegen die Osmanen. Unter diesem Baum habe Skanderbeg geheiratet, in diesem Mausoleum liege sein Grab, wird erzählt. Die Festungen des Skanderbegschen Verteidigungssystems sind fast erhalten, wie die nur durch einen steilen Stufenweg erreichbare malerische Burg von Petrela. Touristen lassen sich vor dem Skanderbeg-Nationaldenkmal im Zentrum Tiranas fotografieren, um danach vielleicht einen Skanderbeg-Weinbrand zu kosten.

Ahmet Zogu ist dagegen schon weit umstrittener. Ich werde auf eine seiner mondänen Villen aufmerksam gemacht, die über der Hafenstadt Durres thront. Der Sproß einer osmanischen Gouverneursfamilie riß 1925, von Mordversuchen und Blutrache-Schwüren bedroht, die Macht als Präsident an sich und erklärte sich 1928 als Zogu I. zum einzigen König Albaniens. Als 1939 Mussolini-Italien das Land okkupierte, floh er nach Griechenland. Immerhin gehören die Gebäude der Mussolini-Ära, angesiedelt zwischen einem lieblich-mediterranen Neoklassizismus und Art déco, zu den schönsten in Tiranas Zentrum, das nicht mit vielen baukünstlerischen Attraktionen aufwarten kann. 

2012 wurden Zogus Überreste in Tirana bestattet, und die antikommunistische Berisha-Regierung errichtete ihm ein Denkmal. Als 2013 Jugendliche das Denkmal zu stürzen versuchten, wurden sie von der Polizei daran gehindert. Xhilda wundert der Protest nicht: „Zogu gilt vielen als Verräter. Statt gegen die Italiener zu kämpfen, ist er geflohen und hat den staatlichen Goldschatz mitgenommen.“ 

Die dritte historische Gestalt ist Enver Hoxha, der 1944 ein kommunistisches Regime mit ausgeprägtem Personenkult installierte und das Land schließlich komplett von der Außenwelt abschnitt. 

Die 1988 als Enver-Hoxha-Museum erbaute monumentale Glaspyramide steht seit Jahren leer. Konservative und Sozialisten streiten sich um Abriß oder Umbau. Derweil klettern Kinder die Schrägen des demolierten und beschmierten Gebäudes herauf und nutzen es als Rutschbahn. In der Nähe liegt Hoxhas einstige Villa. Früher traute sich aus Angst vor willkürlicher Verhaftung kaum jemand durch die Straße, heute liegt hier das Ausgehviertel Tiranas. Massen junger Menschen bevölkern die Barterrassen und trinken zu Housemusik Longdrinks.

Die Aufarbeitung des 1990 gestürzten KP-Systems geschieht heute ambivalent. Neben das Opfergedenken mischen sich Tendenzen der „Ostalgie“. In der Ausstellung „Bunk Art“, die eine mehrstöckige Bunkeranlage am Rande der Hauptstadt erschließt, wurden neben den komplett eingerichteten Büros der alten KP-Größen auch mehrere Erinnerungsräume für die 300.000 Opfer des brutalen Regimes eingerichtet. Überall im Land finden sich auch noch die kleinen pilzartigen Pillbox-Bunker aus der Hoxha-Paranoia, die man nun in Souvenirläden als Scherzartikel-Miniatur erwerben kann.

Das „Kafe-Muzeum Komiteti“ dürfte das von mir zielsicher gefundene einzige Alternativ-Café Tiranas sein. Es ist ein Refugium jener komplexen „Ostalgie“. Das kesse schlicht gekleidete Mädchen hinter dem Tresen könnte auch in einer Kreuzberger Eckbar stehen. Ich frage nach den Kuchen. „Sprich besser deutsch“, fordert sie mich auf, als sie das holprige Englisch nicht ganz versteht. Ich sage ihr, daß ich bislang nicht einen einzigen Mann in Albanien mit langem Haar gesehen hätte, im „Komiteti“ aber gleich zwei neben mir säßen. 

„Wir sind anders hier“, erläutert die Bedienung. Das Café sei ausgestattet mit zahlreichen typischen Möbeln der Hoxha-Zeit. Sessel der sechziger Jahre laden zum Sitzen ein, alte Kassettenrekorder hängen an der Wand, ein Wählscheibentelefon steht auf dem Fensterbrett. „Vielen unserer auf Luxus orientierten Altersgenossen ist es nicht mehr bequem genug, auf den alten Holzstühlen zu sitzen. Wir aber mögen das.“

Xhildas Vater war einst als Lehrer in der Kommunistischen Partei gewesen. Nach dem Sturz des Kommunismus schenkte ihm Xhilda die Memoiren eines überlebenden Gefangenen des Regimes: „Er hatte Tränen in den Augen, als er das Buch las.“

Doch sie selbst sieht jene Zeit differenziert: „Es war damals sauberer in Albanien. Vieles ging geordneter vonstatten. Die Blutrache existierte nicht. Es gab nicht diesen ganzen Wildwuchs an illegalen Baustellen. Nicht alles war damals schlecht. Vielleicht ist das aber auch nur die Erinnerung an die eigene Kindheit, die man immer als schöne Zeit in Erinnerung behalten will. Das Problem war, daß wir völlig abgeschnitten von der Außenwelt waren und das Land eigentlich nicht verlassen konnten. Diese Freiheit will heute niemand mehr missen.“

Tirana ist wirklich stellenweise schmutzig, sein Umland verbaut. Heruntergekommene alte Wohnhäuser werden von sich durch das Land fressenden modernen Apartmentblocks verdrängt. Allerorts findet sich Bauschutt auf Feldern und Brachflächen. Große wilde Hunde streunen durch die Stadt oder liegen zermatscht auf der Schnellstraße herum. 

Eine vor mir tippelnde Alte wirft die von ihr mitgeführte Plastiktüte einfach zwischen zwei parkende Autos. Ein Müllmann in gelber Weste, ein traditionell häufig von Zigeunern ausgeübter Beruf, öffnet die Unterseite eines an einem Verkehrsmast angebrachten Mülleimers. Der ganze Unrat fällt auf die Straße, der Müllmann stochert darin herum und zieht dann weiter.

Deutsche verfügen hier noch über Prestige 

Nicht nur in Tirana sieht man an jeder Ecke Polizei stehen. Auch an der von der Hauptstadt nach Montenegro führenden Staatsstraße SH1, im Volksmund die „Todesstrecke“ genannt, wechseln Unmengen an Tankstellen, Gasthöfen und Polizeiposten einander ab. Es nutzt nur begrenzt. Ich suche beim Blick aus dem Autofenster einen Fleck unberührter Natur, als uns ein Fahrzeug mit aufheulendem Motor rechts überholt, die Reifen schon im Schotter jenseits der Fahrbahn. Unseren Vordermann überholt er links und schert erst knapp vor dem nahenden Gegenverkehr wieder ein. In der Stadt hält Xhilda an keinem Zebrastreifen: „Im Gegenteil. Man gibt Gas, damit der Fußgänger schneller rennt.“ Radfahrer, entweder sehr arme Albaner ohne Auto oder wenige wagemutige Westtouristen auf Mountainbike-Tour, bewegen sich in latenter Lebensgefahr.

Dafür zählt die gesellschaftliche Außenwirkung um so mehr. Das Auto fungiert als Visitenkarte. Für Hochzeiten stürzt man sich in horrende Ausgaben. „Auch wenn man danach zwei Monate nur Wasser und Brot zu sich nehmen kann“, lächelt Xhilda. Als ich mit meiner Begleiterin im Hinterhof einer kleinen Eismanufaktur in Durres eine Cassata esse, fragt eine Arbeiterin nach, ob ich noch Single sei. Ich könnte mir doch mal ihre Nichte anschauen. Deutsche verfügen hier noch über Prestige.

 Xhilda ist seit Jahren mit einem Deutschen verheiratet, lebt in einer mitteldeutschen Kleinstadt. Ganz eingelebt hat sie sich nie: „Ich bin Südländerin, habe Temperament. In Deutschland sind die Menschen aber leider distanziert und eiskalt.“ Ihre Heimaturlaube genießt sie. Doch macht es eben leider einen schlechten Eindruck, wenn sie abends ausgehen will, ihr deutscher Mann aber lieber zu Hause auf der Wohnzimmercouch bleibt: „Dann fragen die Leute irritiert: Du gehst allein aus? Und was macht dein Mann?“