© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Die Vorsicht der Unterworfenen
Literaturbetrieb: Was Simon Strauß von Joris-Karl Huysmans und Michel Houellebecq trennt
Thorsten Hinz

Vor genau einem Jahr wurde Simon Strauß’ kleiner Roman „Sieben Nächte“ veröffentlicht und begeisterte das Feuilleton. „Was für ein leidenschaftliches, angstfreies, traditionstrunkenes, zukunftsgieriges Kampfbuch gegen die Abgeklärtheit“, jubilierte Volker Weidermann, Literaturredakteur des Spiegel. Und Florian Illies, Verfasser der „Generation Golf“, verkündete in der Zeit: „Schon wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, spürt man, daß es für Furore sorgen wird: Es ist klein und kompakt und doch seltsam warmblütig, ein Manifest, schnell zu lesen, schwer zu vergessen.“ Der Autor erbringe „einen sichtbaren Identitätsnachweis seiner Generation“. 

Ein nachgereichter kleiner Skandal komplettierte das Ereignis, als im November 2017 der britische Guardian Verbindungslinien des Sohnes von Botho Strauß zur deutschen Romantik und zur AfD feststellte.

Heute, aus zeitlicher Distanz, erscheinen das Buch, die Lobeshymnen und Skandaliserungen nur als „Fakes“, als Marketing-Tricks, als ein auf Gegenseitigkeit angelegtes Geschäft. Die Geschichte eines privilegierten Endzwanzigers, der an der Konturenlosigkeit seines Lebens leidet und sich zwecks Reifeprüfung den sieben Todsünden – Wollust, Zorn, Neid, Völlerei, Hochmut, Trägheit und Habgier – widmet, ist eine Peinlichkeit sondergleichen. Und eben deshalb samt seiner Rezeption ein authentisches Zeitdokument.

Dem voranstellten Gedicht von Gottfried Benn, das mit den Versen endet: „(...) es gibt nur zwei Dinge: die Leere/ und das gezeichnete Ich“, wird der Roman an keiner Stelle gerecht. Die „Leere“, die Benn meint, ist eine Summe von Erfahrungen, während Straußens Figur ein unbeschriebenes Blatt ist und bleibt. Das Ich des Erzählers ist nicht „gezeichnet“, nur blasiert, und zwar auf eine so unschuldige Art, daß man ihm unmöglich böse sein kann. Als Motto hätte Verlaines „Kaspar Hauser“ in der Übertragung von Stefan George gepaßt: „Sanften blickes ein stiller waise / zu großer städte getös“ / kam ich auf meiner reise – niemand nannte mich bös.“

Die praktizierten Todsünden sind neckische Späßchen, welche die Künstlichkeit der Existenz des Erzählers bestätigen anstatt sie aufzuheben. Noch einmal Verlaine: „Wenngleich ohne heimat und erben/ Wenngleich ich für tapfer nicht golt/ Im kriege wollte ich sterben/ Der tod hat mich nicht gewollt“. Die aphoristischen Einsprengsel, die Anspielungen an George, Jünger, Carl Schmitt usw. enthalten, wirken affektiert: „Souverän ist, wer über die stärkste Phantasie verfügt, nicht über die schärfste Ratio. Ein Geheimclub für alle, die noch ans Geheimnis glauben.“ Es handelt sich also weniger um das Manifest einer Generation, sondern von ästhetisierenden Dandys, die sich als nachwachsende Elite verstehen.

Strauß, Jahrgang 1988, hat kürzlich in einem Rundfunk-Interview darauf hingewiesen, daß seine Generation kein kollektives Initiations- und Identifikationserlebnis kennt. Doch vermutlich ist sie die erste, die sich eines Tages im eigenen Land als ethnische Minderheit wiederfinden wird. Auch der Ich-Erzähler in den „Sieben Nächten“ kann diese Tatsache und ihre Risiken nicht gänzlich ignorieren: „(...) die Fremden gehen uns an. (…) Sie, die jetzt unter uns, in unseren Kommunen und Städten leben, hier duschen, essen und weinen, die Fehler machen und wütend sind, haben ein richtiges Schicksal, nicht nur ein falsches Leben.“ Er hält es sogar für möglich, daß „die Sache schiefgeht“.

Bezeichnenderweise läßt der Autor den Erzähler die Wirklichkeit nur auf dem Bildschirm erleben. Seine Befürchtungen delegiert er an einen Dritten, einen sogenannten „Wichtigen“, der eine „Rede zur Lage der Nation“ hält. Der verweist als Handlungsmodell auf das Patronagewesen im alten Rom, das Reiche und Arme, Eingesessene und Neuankömmlinge in ein reziprokes Verhältnis setzte: Die einen standen in der Pflicht zur Fürsorge, die anderen in der Pflicht zur Loyalität und Integration. Nur setzt das Patronat die natürliche Autorität des Patrons voraus, also das Gegenteil der Ich-Schwäche, die der Erzähler sich und seiner Generation attestiert. 

Es hätte spannend werden können, wenn Strauß versucht hätte zu ergründen, wie die Harmlosigkeit seiner Generation mit der verwundeten Existenz zusammenhängt, um die Benns Gedicht kreist. Sein Buch ist nicht deshalb schwach, weil es von schwachen Menschen erzählt, sondern weil der Bericht über ihre Schwäche so schwächlich ausfällt. Weil die Harmlosigkeit so harmlos daherkommt und die Angst so ängstlich.

Im Grunde kommen die „Sieben Nächte“ mindestens 133 Jahre zu spät. Denn der Typus, den Strauß so uninspiriert thematisiert, wurde schon 1884 vom damals 36jährigen Joris-Karl Huysmans im Roman „Gegen den Strich“ exemplarisch dargestellt. Die Hauptfigur Jean Des Esseintes, letzter Sproß einer degenerierten Adelsfamilie, zieht sich angeekelt aus der Pariser Gesellschaft auf sein Landschloß zurück, wo er eine erlesene Kunstwelt um sich errichtet. Seine Bibliothek enthält fast ausschließlich antike Werke, sein literarisches Interesse endet im 5. Jahrhundert mit dem Untergang Westroms, „als das mit dem Tode ringende Leben, das sich in Verblödung und Unflat noch dahingeschleppt hatte, erlosch“. Das Speisezimmer ist eine holzgetäfelte Schiffskajüte inmitten eines Saales. Vor dem Bullauge als der einzigen natürlichen Lichtquelle steht ein Aquarium, so daß der Exzentriker sich während seiner Mahlzeiten der Illusion einer Unterwasserfahrt hingeben kann. Er wünscht sich, „die Abstraktion bis zur Halluzination zu treiben und den Traum von der Wirklichkeit an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen“. In seinem Herzen befindet sich indes eine Blaubart-Kammer: Er sammelt alte Kupferstiche, die Folter- und Todesszenen zeigen.

Auf die Dauer wird ihm der Mangel an realem Leben zum Problem. Zwecks Selbsterforschung studiert er moderne Belletristik „absonderlichen Charakters“, so die Werke Edgar Allan Poes: „Seine Geschöpfe, die sich wanden unter den Krämpfen der ererbten Neurosen, die den Verstand verloren über ihren moralischen Veitstänzen, lebten nur durch ihre Nerven (…).“ In diesem Satz ist Benns Einheit aus „Leere“ und „gezeichnetem Ich“, die Strauß bloß prätentiös behauptet, künstlerisch bereits erfaßt. Am Ende deutet sich Des Esseintes’ religiöse Wende an, verwandeln seine dekadenten sich in Erlösungssehnsüchte. Diese Entwicklung entspricht der Hinwendung des Autors Huysmans zum katholischen Glauben. 

Ein vergleichbares, transzendentes Verlangen scheint auch der Ich-Erzähler bei Strauß zu verspüren. Das bezeugen unter anderem die Erwähnung des katholischen Schriftstellers Paul Claudel oder der Ausspruch des Erzählers: „Ich will Mut zum Zusammenhang, zur ganzen Erzählung.“ An anderer Stelle meint er trotzig, „eine Gesellschaft, in der sich niemand mehr zum Ganzen bekennt, ist auf Dauer nicht überlebensfähig“. Nur füllt Strauß den Entwurf nicht aus, entwickelt er keine Konflikte, spitzt nichts zu, sondern beschränkt sich auf Lästereien über die Politische Korrektheit, die letztlich auch nur ein Versuch ist, das Sinnvakuum zu füllen.

Auf Joris-Karl Huysmans bezieht sich unmittelbar der Ich-Erzähler in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Der zynische Mittvierziger François hat eine Doktorarbeit über ihn verfertigt und bereitet, während sich die Islamisierung von Politik und Gesellschaft vollzieht, eine Werkausgabe vor. Der Abschluß der Arbeit bedeutet zugleich seinen Abschied von Huysmans, dessen Hingabe an den Katholizismus ihn nicht überzeugt, weil sie mehr ästhetisch als religiös motiviert war und François den europäischen Ästhetizismus für eine leere Pose hält. Das Buch endet mit einer Vision, in welcher der völlig Bindungslose seine Konversion zum Islam vorwegnimmt.

Die wäre perspektivisch auch Straußens Romanheld ohne weiteres zuzutrauen, ohne Kraft und Radikalität, wie sein Autor ihn ausgestattet hat. Huysmans hatte die Wechselbeziehung zwischen Transzendenzverlust, Dekadenz und Lebensschwäche als Archetypen der Moderne geprägt. Houellebecq hat ihn aktualisiert, auf die Gesellschaft hochgerechnet und mit dem politischen Islam konfrontiert. Simon Strauß erschöpft sich in dandyhaften Posen und Thesen, weil er das Konkrete und Konfrontative scheut und eine karrieretechnisch verständliche, aber kunstfeindliche Vorsicht übt.

Der Kulturbetrieb, ein Überbau aus Institutionen und Direktiven, ruft zwar unentwegt nach mutigen Avantgardisten, ahndet aber jede echte Regelübertretung mit Ausschluß. Die Identitären, die derselben Generation angehören wie Strauß und die Sinnfrage mit der Frage nach kultureller Identität und praktischer Selbstbehauptung verbinden, werden als „Nazi-Hipster“ sogar kriminalisiert. Im literarischen spiegelt sich daher auch ein kulturbetriebliches, das heißt gesellschaftspolitisches Desaster: Draußen ist man „Nazi“, drinnen aber ein Unterworfener, der eine Literatur produziert, die hochgelobt und zum Anlaß für Debatten-Simulationen genommen wird, aber unmöglich ernst zu nehmen ist. Wenn dieser Opportunismus der „Identitätsnachweis“ des Künftigen ist, dann kann man den Laden auch schließen.

Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar, Berlin 2017, gebunden, 144 Seiten, 16 Euro

Joris-KarlHuysmans: Gegen den Strich. dtv, München 2003, broschiert, 272 Seiten, 9,90 Euro

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Roman. Dumont, Köln 2015, gebunden, 272 Seiten, 22,99 Euro