© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Liebe als kosmische Naturgewalt
Literarischer Solitär: Emily Brontës irritierender Roman „Wuthering Heights“
Heinz-Joachim Müllenbrock

Als „Wuthering  Heights“, der einzige Roman der vor 200 Jahren geborenen Emily Brontë, 1847 vorsichtshalber pseudonym erschien, standen die Zeitgenossen diesem Buch  meist ratlos bis ablehnend oder sogar empört gegenüber. Die Verfasserin, die ihr ganzes Leben, von zwei kurzen Aufenthalten in Brüssel und York abgesehen, nicht aus dem elterlichen Pfarrhaus von Haworth in Yorkshire herausgekommen ist, hatte der äußeren Enge ihres familiären Umfeldes und den ihr dadurch auferlegten Entsagungen ein Werk mit atemberaubend weitgespanntem seelischen Horizont abgerungen.

Mit diesem Roman gehört Emily Brontë zusammen mit ihrer Schwester Charlotte zu den Schriftstellerinnen, die im 19. Jahrhundert der von Frauen geschriebenen Literatur erstmals größeres Gewicht gaben, indem sie  – wie vor den Brontës Jane Austen und später George Eliot – der Welt weiblicher Erfahrung selbstbewußt Resonanz verschafften.

Der von Emily Brontë gewählten Scharfeinstellung entsprechend spielt  – anders als in den vorrangig soziale Fragen behandelnden Romanen eines Dickens, Thackeray oder Trollope – Gesellschaftskritik in „Wuthering  Heights“ überhaupt keine Rolle. Dieser Roman hebt sich spektakulär von der Tradition des englischen Gesellschafts- und Sittenromans ab und übertrifft in seiner provozierenden Andersartigkeit sogar „Jane Eyre“ (1847), den ebenfalls viktorianische Konventionen herausfordernden Roman Charlotte Brontës.

Im Mittelpunkt steht Heathcliff, ein verwahrlostes Findelkind, das von Mr. Earnshaw zusammen mit dessen eigenen Kindern Catherine und Hindley auf dem auf einer sturmumtosten Anhöhe in der Moorlandschaft Yorkshires gelegenen Gutshof Wuthering Heights  aufgezogen wird. Schon gleich zu Anfang wird das Dialektwort „Wuthering“ erklärt, welches „atmospheric tumult“ (Aufruhr in der Atmosphäre) bezeichnet. Dadurch wird auf die kosmischen Naturgewalten vergleichbare Liebe von Heathcliff und Catherine Earnshaw vorausgedeutet, die mit der wilden und zugleich bewegten Natur von Heide und  Moor dramatisch orchestriert wird.

Während Catherine (Cathy) Earn-shaw sich ihrer Wesensverwandtschaft  mit dem schroffen Fremden bewußt wird, die sich schon bald zu dem unabweisbaren Gefühl starker Liebe steigert, wird Heathcliff von ihrem Bruder Hindley bösartig schikaniert. Den Gegensatz zu Heathcliff verkörpert der wohlhabende und kultivierte Edgar Linton, der von jenem so verschieden ist wie die heitere, gepflegte Atmosphäre von Thrushcross Grange, dem Herrenhaus der Lintons, von der Düsterkeit von Wuthering Heights. Die beiden Gutshöfe veranschaulichen den Kontrast zwischen Zivilisation und Wildnis, dem die persönlichen Konflikte zugeordnet sind. Als Catherine der Haushälterin Ellen (Nelly) Dean in einem Augenblick später bitter bereuter Selbsttäuschung erklärt, daß Heathcliff ihrer nicht würdig sei, verläßt dieser, zufällig Zeuge der ihn demütigenden Bemerkung geworden, wutentbrannt Wuthering Heights.

Nach Jahren als reicher Mann zurückgekehrt, findet er Catherine als Edgar Lintons Frau wieder und schwört von nun an einzig und allein auf Rache. Selbst dieser von unerbittlicher, archaischer Grausamkeit geprägte Rachefeldzug, durch den er sich schließlich in den Besitz von Wuthering Heights und Thrushcross Grange bringt und so Hindleys Sohn Hareton seinerseits  als Knecht aufziehen kann, vollzieht sich im Bann von Heathcliffs  unauslöschlicher Liebe zu Catherine.

Das Außergewöhnliche und Beunruhigende der dargestellten Welt wird dadurch unterstrichen, daß der Erzählvorgang weitgehend der schlichten Hausbediensteten Nelly Dean übertragen wird, in deren nüchterner, an der Alltagsnormalität orientierter Sichtweise sich die geschilderten Ereignisse besonders befremdlich ausnehmen.

Das an melodramatischen Effekten reiche äußere Geschehen tritt bedeutungsmäßig hinter der Dynamik des inneren Geschehens zurück. Und trotz  der den Roman eröffnenden Angabe der Jahreszahl 1801 spielen zeitgeschichtliche Umstände in das Geschehen überhaupt nicht hinein, das eigentümlich zeitlos  wie ein Naturereignis anmutet. An die Stelle eines breiten Soziogramms tritt ein hochkonzentriertes Psychogramm. Zwei in leidenschaftlicher, schicksalhaft-tragischer Liebe aneinandergekettete  Menschen offenbaren in rückhaltloser Ehrlichkeit ihre Gefühle füreinander. Die Tiefe ihrer Bindung wird durch eine gerade in Augenblicken seelischer Anspannung  fast lakonisch einfache Sprache hervorgehoben. So ruft Catherine im Bewußtsein ihres Aufgehens im anderen in schmerzlicher Selbsterkenntnis aus: „‘Nelly, I am Heathcliff!‘“

Sie versprechen sich gegenseitig Vergebung

Auch in Heathcliffs Sprechweise werden starke Empfindungen mit stürmischer Direktheit artikuliert. Als er die schon todkranke Catherine in einem beide aufwühlenden Zusammentreffen, in dem sie sich gegenseitig Vergebung versprechen, ein letztes Mal sieht und dabei verzweifelt mit Zärtlichkeiten überhäuft, fragt er sie in heftiger Erregung, warum sie ihn verschmäht und warum sie ihr eigenes Herz verraten habe. In dem Stakkato der kurz abgestoßenen Fragen wird seine innere Erschütterung spürbar. Die emotionale Affinität der beiden unglücklich Liebenden äußert sich also auch in sprachlicher Unmittelbarkeit.

Heathcliff gibt den Prüfstein für die Aufnahme des Romans ab. In seinen widerspruchsvollen geistig-seelischen Veranlagungen überwiegen dämonische Züge. Er ist aufgrund der schlechten Behandlung in seiner Jugend als Opfer seiner Umwelt interpretiert worden, und man hat ihm zu Recht auch Merkmale des dunklen Byronschen Helden zugeschrieben. Einen Zusammenhang  zwischen Leiden und Aggression wie in Mary Shelleys „Frankenstein“ (1818) herzustellen, erscheint nach Heathcliffs früh erfahrenen Demütigungen ebenfalls plausibel.

Im Text wird er in klassischen moralischen Verdammungsworten „villain“ (Schurke) oder „fiend“ (Teufel) genannt. Aber solche Bezeichnungen stammen meist von Nelly Dean und sind zweifellos weniger aussagekräftig als seine eigenen Worte, die nicht von einer übergeordneten auktorialen Instanz problematisiert werden. Trotz der unverkennbaren brutalen Züge Heathcliffs, der häufig durch Tiervergleiche wie wölfisch charakterisiert wird, hat Emily Brontë von einer moralischen Verurteilung abgesehen. Sie hat dem viktorianischen Publikum ein ungewohntes Bewertungsvakuum zugemutet, in dem sich der Leser, dem das letzte Urteil überlassen bleibt, allein zurechtfinden  muß. Die traditionellen sittlichen Kategorien von Gut und Böse haben jedenfalls ihre Verbindlichkeit eingebüßt.

Nicht nur durch Emily Brontës moralische Enthaltsamkeit nimmt „Wuthering Heights“ eine Ausnahmestellung in der frühviktorianischen Epoche ein. Auch die von der Verfasserin praktizierte Erzählweise ist ungewöhnlich für ihre Zeit, wird die Geschichte doch nicht in ihrem chronologischen Ablauf präsentiert. Durch ihre verschachtelte  Struktur fordert die Erzählung dem Leser ein nicht geringes Maß an Aufmerksamkeit ab. 

Formale Aspekte machen aber nicht den Kern der Fremdartigkeit aus, die dieser Roman für das zeitgenössische Publikum verkörperte. Mit dem freimütigen Bekenntnis zu menschlichen Leidenschaften, die sich in herkömmliche Moralvorstellungen nicht mehr integrieren lassen, fließen weltanschauliche Besonderheiten zusammen. Die  „Wuthering Heights“ durchziehende pantheistisch-mystische Lebenssicht widersprach religiöser Orthodoxie. Emily Brontë scheint auch ihren problematischen Gestalten  Erlösung nicht vorzuenthalten, auf die wohl selbst ein verderbter Charakter wie Heathcliff  hoffen darf. Auch wenn keine grundlegende Religionskritik beabsichtigt sein mag, tritt doch in diesem Roman an die Stelle christlicher Doktrin eine andere Sphäre der Transzendenz: die allumfassende, geheimnisvolle Natur, die dem von irdischen Zwängen befreiten Menschen das Eingehen in eine Welt der Geborgenheit und des Trostes  verspricht, nach der sich die sterbende Catherine in einem visionären Augenblick sehnt. Ihr Wunsch nach Einswerden mit der Natur schließt den nach Wiedervereinigung mit Heathcliff ein.

Kein Wunder, daß der viktorianische Dichter und Autor Algernon Charles Swinburne, selbst ein großer Rebell, Emily Brontë in seine Ahnenreihe literarischer Rebellion aufnahm und „Wuthering Heights“  für seine Zeit neu entdeckte. Heute bedarf der zu einem Klassiker der englischen Literatur aufgestiegene Roman keiner besonderen Fürsprache mehr. „Wuthering Heights“ hat Gegenwartspotential.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Jonathan Swift (JF 48/17).

Emily Brontë: Sturmhöhe. Roman. dtv, München 2018, broschiert, 496 Seiten, 12,90 Euro