© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Kritische Anmerkungen zum „Gomorrha 1943“-Museum in der Hamburger St.-Nikolai-Kirche
Es stimmt so nicht
Helmut Schuhart

Unerhörtes schrieb der britische Premier Winston Churchill im Juli 1940 an den Minister für Flugzeugproduktion, Lord Beaverbrook: „Nichts anderes wird den Deutschen zur Vernunft bringen und ihn in die Knie zwingen als ein absolut verheerender Ausrottungsangriff mit überschweren Bombern von diesem Land aus auf das Heimatland der Nazis.“ Die „Gomorrha“-Angriffe auf Hamburg im Sommer 1943 entsprachen dieser Intention und kamen an Intensität dem namensgebenden biblischen Ereignis nahe. Im Bewußtsein der Stadt sind die etwa 34.000 bis 37.000 Toten nicht vergessen, wovon das Museum „Mahnmal St. Nikolai“ in der Krypta der zerstörten Hamburger Kirche zeugt.

Wenn Winston Churchill schon im Juli 1940 – weit vor Coventry im November desselben Jahres – von „verheerenden Ausrottungsangriffen“ sprach, so war das keine sprachliche Fehlleistung, sondern Ausdruck früher strategischer Planung. 

Das Museum gibt in einem einleitenden Teil Auskünfte über die Vorgeschichte. Sie beginne, so bekunden es dort diverse Texttafeln, mit dem deutschen „Überfall auf Polen“ am 1. September 1939, setze sich fort mit den massiven Zerstörungen Warschaus und Rotterdams sowie dem erstmaligen flächendeckenden Angriff auf Wohngebiete der Stadt Coventry im November 1940. Das habe, so heißt es weiter, einen „Strategiewechsel“ der Alliierten bewirkt, der in der Folge dazu geführt habe, „daß die massiven Zerstörungen (der oben genannten Städte) durch die deutsche Luftwaffe als Feuersturm an die ‘Heimatfront’“ zurückgekommen seien. Ergänzend heißt es in der einschlägigen Museumsbroschüre, es sei schon seit 1937 deutsche Überzeugung gewesen, daß es künftig weniger darauf ankomme, die Arsenale der wirtschaftlichen Technik zu zerstören, als vielmehr sie zu entvölkern und daß die rücksichtslose Durchführung der Bombenangriffe den Schrecken in der Bevölkerung bis zur Panik steigern könne. Nach dieser Maxime hätte dann die deutsche Führung bei der Bombardierung von Guernica, Warschau, Rotterdam und anderen Städten in den überfallenen Ländern gehandelt.

Nichts von alldem ist so eindeutig und unstrittig, wie es hier schuldorientiert präsentiert wird. Unstrittig ist zwar die Frage der Schuld am Kriege, fraglich dagegen, was das für die Militäraktionen im Krieg bedeutete. Waren sie von Anfang an wegen der Kriegsschuld kriegsverbrecherisch „kontaminiert“, so daß sich eine kriegsvölkerrechtliche Überprüfung  erübrigt? Dem Besucher des Mahnmals wird mit dem oben zitierten selektiven „historischen Kontext“ ein „Ja“ nahegelegt, das aber einer unvoreingenommenen historischen Überprüfung nicht standhält. Denn die näheren Umstände und Motive für die zum Symbol deutschen Luftterrors gewordenen Städte Warschau, Rotterdam und Coventry beweisen, daß es sich nicht um vorsätzliche Terrorangriffe auf die Zivilbevölkerung gehandelt hat, sondern um kriegsvölkerrechtlich zulässige Angriffsoperationen.

Warschau war von der polnischen Militärführung zur Stadt erklärt worden, die um jeden Preis verteidigt werden sollte. An die 120.000 Soldaten und zivile Helfer wehrten tatsächlich erfolgreich alle Angriffe der deutschen Truppen ab. Da Warschau keine „offene“, sondern eine verteidigte Stadt war und der Angriff der Kapitulationserzwingung diente, die dann auch tags darauf erfolgte, waren die Voraussetzungen für eine kriegsvölkerrechtlich legitimierte Aktion gegeben. Ausdrücklich waren auch nur militärisch relevante Ziele und nicht das ganze Stadtgebiet zum Angriff freigegeben worden. Daß es dennoch durch den leichtfertigen Einsatz ungeeigneter Bomber zu teilweise unterschiedslosen, großräumigen Zerstörungen kam, wirft einen bedenklichen Schatten auf die Aktion, ohne aber ihre grundsätzliche Zulässigkeit in Frage stellen zu können.

Die Angaben über die Zahl der Toten schwanken extrem, sie liegen zwischen 7.000 und über 30.000. Auf keinen Fall aber kann die schwammige Hamburger Museumsinformation akzeptiert werden, die lautet, „daß der Luftkrieg gegen Polen und die Zerstörung seiner Hauptstadt Warschau alleine 650.000 Tote – die Hälfte seiner Bevölkerung – gekostet habe“. Es wäre ein gravierendes Exempel für mangelnde Sorgfalt oder gar vorsätzliche Meinungsbeeinflussung, wenn zum Zwecke einer „mörderischen“ Belastung der Luftwaffe alles in einen Topf geworfen worden wäre: die Kampf- und Luftkriegsopfer von 1939, die Toten des Ghetto-Aufstandes und die des Warschauer Aufstands.

Rotterdam wurde ebenfalls als Teil der „Festung Holland“ militärisch verteidigt. Es kapitulierte erst zu einem Zeitpunkt, als die Bomberverbände schon in der Luft waren und nicht alle mehr über die neue Lage informiert werden konnten. Das Bombardement traf die Stadtviertel der Frontlinie verheerend, aber auch in diesem Fall war von Anfang an nicht das ganze Stadtgebiet zum Angriff freigegeben worden. 850 Tote forderte der Luftangriff, doch die britische Propaganda scheute sich nicht, von einer „beispiellosen Greueltat mit 30.000 Toten in 30 Minuten“ zu reden und damit das Ereignis zu einem weiteren Symbol deutscher Luftkriegsverbrechen zu stilisieren.

Eine andere Situation war im Falle Coventrys gegeben. Bei dieser Stadt handelte es sich um das zentrale Rüstungszentrum der britischen Luftwaffe. Das machte sie zu einem erlaubten Angriffsobjekt. Verhängnisvollerweise lagen jedoch zahlreiche Fabriken im Stadtzentrum und mitten in Wohngebieten, weshalb es trotz der anerkannt hohen deutschen Zielgenauigkeit mit 568 Toten höhere Opferzahlen gab als bei allen bisherigen Bombardierungen britischer Ziele. Doch als Beispiel für eine besondere deutsche Skrupellosigkeit im Kampfeinsatz unter solchen Umständen taugt Coventry gleichwohl nicht. Denn in England selbst galt die Überzeugung, „daß militärisch-industrielle Ziele nicht ausgespart werden könnten, nur weil sie in Bevölkerungszentren lägen“ – und entsprechend verhielt man sich bei der eigenen Bombenoffensive gegen westdeutsche Städte seit Mai 1940.

Die Museumspräsentation verschweigt dem Besucher alle diese Fakten und speziellen Probleme. Es darf wohl nicht sein, daß Wehrmachtssoldaten völkerkriegsrechtlich konform gehandelt haben. Der „historische Kontext“, in den das Mahnmal St. Nikolai seinem Selbstverständnis nach seine Präsentation gestellt wissen will, läßt sich auf die Formel bringen: Kriegsschuld + Luftkriegsverbrechen = vergeltende Feuerstürme.

Tatsächlich ist die „Feuersturm-Strategie“ der Briten keineswegs durch die vorangegangenen deutschen „Terrorbombardements“ provoziert worden und damit selbstverschuldet auf die Deutschen zurückgefallen. Ein Blick in die Vorgeschichte zeigt, daß Großbritannien schon in der Zwischenkriegszeit in den Kolonien Strafexpeditionen aus der Luft zur „Befriedung“ rebellischer Völkerschaften durchgeführt hatte. Erprobungsfeld für das Konzept des „Air policing“ und „Moral bombing“ war seit 1922 der britisch beherrschte Irak. 1936 wurde dann das „RAF Bomber Command“ ausschließlich für den offensiven Bombenkrieg gegründet und zeitgleich mit der Entwicklung der schweren, viermotorigen Bomber begonnen.

Wenn also Churchill schon im Juli 1940 – weit vor dem Ereignis von Coventry im November – von „verheerenden Ausrottungsangriffen“ sprach, so war das keine sprachliche Fehlleistung in einer Diktion, die man ansonsten eher von NS-Größen gewohnt ist, sondern Ausdruck früher strategischer Planung. Ein weiterer „Kronzeuge“ dafür ist Brigadegeneral Telford Taylor, Hauptankläger bei den zwölf Nürnberger Nachfolgeprozessen. Er resümierte 1949, „daß die Ruinen deutscher und japanischer Städte dennoch nicht das Ergebnis von Vergeltungsmaßnahmen waren, sondern Ergebnis einer gezielten Politik“.

Mit der apodiktischen Behauptung, daß die Feuerstürme als Reaktion auf Warschau, Rotterdam und Coventry an die „Heimatfront“ zurückkamen, geben die Museumsverantwortlichen eine Antwort, die der historischen Wahrheit nicht gerecht wird. 

Ein vergleichender Blick auf die Luftkriegskonzeption der Deutschen zeigt, daß Deutschland im Zuge seiner Nach- und Aufrüstung ab 1935 eine grundsätzlich andere Vorstellung von Nutzen und Verwendung der Luftwaffe hatte. Im Mittelpunkt des Denkens und Rüstens stand nicht wie in Großbritannien der strategische Luftkrieg zur Demoralisierung des Gegners, sondern der operative Einsatz zur Unterstützung des Heeres am Boden. Deshalb gab es zu keinem Zeitpunkt schwere, viermotorige Bomberflotten, sondern nur mittelschwere, zweimotorige Bomber, die trotz aller angerichteter Schäden und Propagandarhetorik nicht zu den Flächenverwüstungen und Op-ferzahlen fähig waren, die dann die Bomberverbände der Briten und Amerikaner anrichteten.

Die Eskalation des Bombenkrieges von den Anfängen bis zu den Feuerstürmen und dem amerikanischen Atombombenexperiment in Japan geht weit über eine deutsche alleinige Verantwortlichkeit hinaus. Außerdem berührt der Bombenkrieg zeitlose kriegsvölkerrechtliche und moralisch-ethische Fragen wie beispielsweise die, ob der „Befreier“ im Kampf gegen eine Diktatur in der Anwendung seiner Mittel an Recht und Moral nicht mehr gebunden ist. Ein „Ja“ hieße im vorliegenden Fall, daß die unterschiedslosen Verwüstungen zur Demoralisierung oder gar Ausrottung einer Zivilbevölkerung durch den „höheren Zweck“ legitimiert gewesen wären. Mit der apodiktischen Behauptung, daß die Feuerstürme als Reaktion auf Warschau, Rotterdam und Coventry an die „Heimatfront“ zurückkamen, geben die Museumsverantwortlichen eine Antwort, die der historischen Wahrheit nicht gerecht wird. Das ist ein Zustand, der Historiker umtreiben müßte, denn deren Pflicht ist es, Einspruch zu erheben, wenn die historische Erinnerung zu einer Heimat des Wunschdenkens wird, das dem Glauben opfert und das Wissen ignoriert.






Helmut Schuhart, Jahrgang 1944, studierte Geschichte, Slawistik und Leibeserziehung an der Universität Bonn. Bis zu seiner Pensionierung war er im gymnasialen Schuldienst in Bonn und Geesthacht tätig. Zu seinen besonderen Interessengebieten gehören Osteuropäische Geschichte, Maritimes und Militärgeschichtliches.

Foto: Trauer und Verzweiflung sprechen aus der Skulptur „Prüfung“ von Edith Breckwoldt auf dem Gelände der Ruine von St. Nikolai in Hamburg-Altstadt: Das Mahnmal-Museum präsentiert den alliierten Bombenterror in einem selektiven Kontext, der einer unvoreingenommenen historischen Überprüfung nicht standhält