© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Zug fällt aus
Verkehrsinfrastruktur und Funkverbindungen: Wer mit Bahn oder Auto unterwegs ist, merkt sinnfällig, wie marode und unzureichend Straßen, Schienen und WLAN-Verbindung sind
Hinrich Rohbohm / Christian Rudolf

Der Schrei kommt urplötzlich und überraschend. So überraschend, daß einige Reisende erschrocken zusammenzucken. „Neiiiinn!“ Ein Schwall von Flüchen folgt. Das Gesicht des etwa 60 Jahre alten Mannes ist leicht rot angelaufen, Frust und Ärger sind ihm deutlich anzusehen. „Das ist jetzt das dritte Mal an diesem Tag“, schimpft er, während er vor der großen Anzeigetafel des Hauptbahnhofes von Hannover steht. Dort werden gerade die Verspätungsmeldungen aktualisiert. Zwölf Zugverbindungen sind auf der Abfahrtstafel angezeigt. Acht von ihnen weisen zum Leidwesen der Reisenden auf erhebliche Verzögerungen hin.

Der Intercity nach Hamburg-Altona zeigt 50 Minuten Verspätung an, der kurze Zeit später fahrende ICE 45 Minuten. Lange schon sind Verspätungen bei der Deutschen Bahn an der Tagesordnung. Ein Viertel aller Fernzüge ist verspätet. Die Deutsche Bahn kommt auf derzeit 7.900 Verspätungsstunden – täglich. „Die Strecken sind einfach überlastet und die Gleise veraltet“, erklärt ein Schaffner genervten Fahrgästen später im Zug. 

Nicht nur auf der Schiene, sondern auch auf Deutschlands Straßen hat sich im Laufe der vergangenen Jahre ein enormer Investitionsrückstand gebildet. Daten der KfW-Bank vom Juni beziffern ihn allein bei den Kommunen auf 159 Milliarden Euro. Im Vorjahr lag er noch bei 126 Milliarden.

 Einst für seine moderne Infrastruktur weltweit beneidet, droht der Bundesrepublik inzwischen ein gefährlicher Substanzverlust. Marode Fahrbahnen werden oftmals nur notdürftig wieder zusammengeflickt, durch Frost im Winter entstandene Schlaglöcher allenfalls ausgebessert. Kostspielige, aber notwendige Brücken- und Straßensanierungen schieben Politiker in Bund, Ländern und Kommunen nicht selten von Jahr zu Jahr hinaus, um die Haushalte zu entlasten. Dabei wissen sie: Aufgeschobene Reparaturen machen jedes dieser Vorhaben noch teurer. Weil sich der Zustand von Schienen und Straßen nur noch weiter verschlechtert. Droht Deutschland gar seinen Ruf als Land mit hervorragender Infrastruktur zu verlieren?

„Unsere Wirtschaft lebt von Straßen und Schienen“

Für Guido P. ist das längst keine Frage mehr, sondern eine Feststellung. „Deutschland is ’ne Bananenrepublik geworden“, sagt er spöttisch. Der Lkw-Fahrer „aus dem Ruhrpott“ ist auf der A20 in Richtung Greifswald unterwegs. In der Nähe von Rostock hat er eine Pause eingelegt. Auf den Zustand von Deutschlands Straßennetz angesprochen, redet er sich gleich erst mal seinen Frust von der Seele. „Wenn Sie wüßten, was ich hier jeden Tag erlebe. Die kommen mit dem Sanieren ja gar nicht mehr hinterher, so viel ist schon im Eimer.“ In den letzten Jahren habe der Staat zwar mehr Geld für den Straßenbau in die Hand genommen. Für Guido P. jedoch viel zu spät. „Unsere Wirtschaft lebt doch von unseren Straßen und Schienen. Und die Politiker lassen die ganze tolle Infrastruktur, die unsere Väter und Großväter geschaffen haben, einfach so verlottern.“

Vor allem auf die Grünen ist der 46jährige nicht gut zu sprechen, bezeichnet sie als „Querulanten“ und „Saboteure“. „Wir können doch nicht jedesmal Bauvorhaben für Jahre auf Eis legen, nur weil mal auf irgendeiner Wiese ein Frosch gequakt hat“, redet sich der Mann in Rage. „Ich würde ja zu gern mal einen von diesen Leuten mit auf Tour nehmen, damit die mal sehen, was sie anrichten. Aber ich glaube, das würde auch nichts bringen“, meint er und lacht etwas verbittert.

Auf seiner Tour nach Greifswald steht ihm noch ein weiteres Ärgernis bevor. Ein gut 100 Meter langer Abschnitt der Ostseeautobahn war im Herbst vorigen Jahres zwischen den Anschlußstellen Tribsees und Bad Sülze im Landkreis Vorpommern-Rügen in Richtung Rostock regelrecht eingesackt. Zu Beginn dieses Jahres brach auch noch die Gegenfahrbahn in Richtung Greifswald weg, so daß eine Trümmerlandschaft zurückblieb, die an ein Erdbeben erinnert. Monatelang mußte dieser Abschnitt in beide Richtungen gesperrt werden. Aus Gründen des Umweltschutzes hatte man den moorigen Untergrund mit sogenannten Trockenmörtelsäulen stabilisiert. Genau die sind nun offenbar gebrochen. Inwiefern beim Bau gepfuscht wurde, um Kosten zu sparen, ist bislang noch nicht endgültig geklärt. Ein Millionenschaden, dessen Behebung Jahre dauern wird. Ein Schaden, der Guido P. einmal mehr längere Fahrzeiten bescheren wird und seinem Arbeitgeber höhere Kosten verursacht. Die Mängel in der Infrastruktur sind für Unternehmen zu einem Störfaktor geworden: Nach einer Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln sehen sich 72 Prozent der Firmen durch schlechte Straßen in ihrer Geschäftstätigkeit beeinträchtigt, darunter 30 Prozent sogar deutlich beeinträchtigt.

Ein weiteres Beispiel: Im Sommer vorigen Jahres mußte die Strecke der Rheintalbahn zwischen Rastatt und Baden-Baden gesperrt werden, nachdem sich bei Tunnelarbeiten die Gleise gesenkt hatten. Fernzüge mußten vorzeitig enden, internationale Züge sowie der Güterverkehr weiträumig umgeleitet werden. Zahlreiche Anschlußverbindungen waren ebenfalls erheblich verspätet. Weil der Abschnitt eine wichtige Lebensader des Güterverkehrs ist, drohten sogar Engpässe bei der Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten, die nun über die ohnehin stark belasteten Straßen transportiert werden mußten. Erhebliche Verzögerungen waren die Folge.

Aus der Schweiz kam in diesem Zusammenhang Kritik am schleppenden Schienenausbau beim großen Nachbarn. Ein Sprecher der Schweizerischen Bundesbahnen spottete, in Deutschland hätten „die Züge keine Verspätung, sondern eine voraussichtliche Ankunftszeit“. Denn die Eidgenossen haben ihren Teil des Ausbaus auf der mitteleuropäischen Nord-Süd-Achse längst erfüllt, Deutschland dagegen hinkt bisher stark hinterher. Die Bundesrepublik investierte 2016 pro Einwohner 64 Euro in die Schieneninfrastruktur, die Schweiz indessen 378 Euro, das Flächenland Schweden 170 Euro. Zum Vergleich: Schweden verfügt über Schienenwege von knapp 12.000 Kilometern, Deutschland über 43.500 (Stand jeweils 2014).

Auch die geplante Fertigstellung der bei Hamburg geplanten A26 ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich große Infrastrukturprojekte in Deutschland zur Hängepartie entwickeln und die wirtschaftliche Entwicklung ausbremsen. Die ersten Überlegungen zum Bau dieser Autobahn stammen schon aus den späten sechziger Jahren. Die Politik diskutierte und diskutierte. Erst 35 Jahre später fiel die Entscheidung zum Bau. 58 Kilometer lang soll sie werden. Seit 2002 sind gerade einmal 15,5 Kilometer davon für den Verkehr freigegeben. Weitere 8,4 Kilometer befinden sich im Bau, 34,5 Kilometer gerade erst in der Planung. Optimistisch gerechnet dürfte die Fertigstellung 2025 erfolgen. Dann hätte das Vorhaben 23 Jahre gedauert. Gut möglich, daß es sogar 30 werden. Oder daß es gar nicht mehr weitergeht.

Denn in Hamburg, auf dessen Staatsgebiet die Trasse weitergebaut werden müßte, regieren seit 2015 die Grünen mit. Grüne mögen keine Autobahnen. Autobahnen zerstören die Umwelt, Autobahnen sind böse. In deutschen Grundschulen wurden schon in den achtziger Jahren Umweltlieder über böse Autobahnen gesungen. Lieber Löcher in den Straßen als Löcher in den Köpfen, lautete ein anderer Slogan. Wer möchte da widersprechen?

23.000 Funklöcher allein in Brandenburg

Heute sind die Löcher in den Straßen dafür bundesweit reichlich gesät. In Norddeutschland nehmen die Landkreise Stade und Rostock Spitzenpositionen ein: Fast 70 Prozent ihrer Kreisstraßen sind sanierungsbedürftig. Will der Landkreis Stade beispielsweise alle seine Fahrbahnen wieder auf Vordermann bringen, müßte er 200 Millionen Euro dafür aufbringen. Geld, das der Kommune in dieser Größenordnung nicht ansatzweise zur Verfügung steht. Zur Verdeutlichung: Die Politik hat ihren Haushaltsansatz hierfür von vier auf fünf Millionen Euro angehoben. Mehr war nicht drin.

Hinzu kommt, daß längst nicht jeder Landkreis wie Stade eine ehrliche Bestandsaufnahme seiner aktuellen Straßenzustände durchführt, was das Ausmaß des Investitionsstaus noch stärker zum Vorschein bringen würde. Laut einer NDR-Recherche sind in den drei norddeutschen Flächenländern von rund 22.000 Kilometern Kreisstraßen etwa 3.100 Kilometer in einem schlechten Zustand, rund 1.950 Kilometer sogar in einem sehr schlechten.

Daß Deutschland nicht nur auf Straße und Schiene, sondern auch in der Luft seinen guten Ruf in der Infrastruktur aufs Spiel setzt, hat nicht zuletzt die endlose Baugeschichte des Flughafens Berlin-Brandenburg gezeigt. Eigentlich sollten von dort bereits seit 2011 Flugzeuge abheben, nachdem der erste Spatenstich für dieses zu den größten Infrastrukturprojekten Deutschlands zählende Bauwerk bereits 2006 getan war. Wegen diverser Mängel mußte die Eröffnung immer wieder verschoben werden. Nun soll es wohl 2020 soweit sein. So recht glauben will das allerdings kaum noch jemand.

Doch nicht nur die verkehrliche Infrastruktur gibt Anlaß zur Sorge. Auch bei der Digitalisierung droht Deutschland den Anschluß zu verlieren. Mangelnder Breitbandausbau, fehlendes oder mangelhaftes WLAN auf Flughäfen und Bahnhöfen, in Zügen und Bussen. Beispiel: Die vielbefahrene Bahnstrecke zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Landeshauptstadt Potsdam. Auf einem Abschnitt von fünf Kilometern ein komplettes Funkloch, Internetzugang nicht möglich, Telefonverbindung brüchig. Die CDU-Landtagsfraktion Brandenburg ermittelte vergangenes Jahr über die Seite „Funklochmelder“ über 23.000 Funklöcher im Mobilnetz des Bundeslandes.

„Das Internet hier ist ein Witz“ flucht die junge Frau, die sich im Gang des Großraumabteils im ICE auf der Fahrt zwischen Berlin und Hamburg auf den Boden gehockt hat, weil alle Plätze belegt sind. Die Reservierungsanzeigen: ausgefallen. Zwei Waggons mußten geschlossen werden. Die Klimaanlage ist dort kaputt. Der Verkauf im Speisewagen: eingestellt. „So sind die Bestimmungen, wenn das so voll ist“, erklärt eine Mitarbeiterin genervten Fahrgästen. Mehrere Toiletten sind wegen „Unbenutzbarkeit“ außer Betrieb. Der Zug fährt nur langsam. Technischer Defekt an der Lok, heißt es. Dann hält er ganz. Personen auf den Gleisen. Eine Stunde Verspätung. „Das WLAN läuft so langsam, da kann man höchstens Messenger-Nachrichten empfangen“, sagt die junge Frau genervt. Der Verbrauch ist vom Dienstleister für die 2. Wagenklasse zudem auf ein Daten­volumen von 200 Megabyte pro Tag und Gerät beschränkt. Mängelbehaftetes Internet ist kein Einzelfall: Wie auf vielen Strecken, so auch auf der zwischen Magdeburg und Uelzen, hat die Bahn ihre Züge mit WLAN ausgestattet, aber die Verbindung ist so langsam, daß Filme nicht gehen und E-Mails nur mit Warten. „In England funktioniert das deutlich besser“, schildert die Reisende ihre Erfahrungen.

Überhaupt – Züge und Geschwindigkeit. Der Transrapid wurde bereits in den achtziger Jahren auf einer Versuchsstrecke im Emsland mit einer Spitzengeschwindigkeit von über 400 km/h getestet. Die Politik indes verwarf das Projekt. Zu teuer, zu böse. China sagte danke, übernahm auch gleich die Technologie, die Deutschland bereitwillig zur Verfügung stellte. In wenigen Jahren wird eine internationale Hochgeschwindigkeitstrasse von Südwestchina über Thailand bis an den Golf von Siam fertiggestellt sein. Mehrere tausend Kilometer in weniger als zehn Jahren. Mit Spitzengeschwindigkeiten von 350 km/h.

In Deutschland gelten hohe Geschwindigkeiten als „böse“ und, wer weiß, vielleicht auch schädlich für Umwelt und Klima. Bei der Deutschen Bahn setzt man für die Zukunft auf langsamere Züge. Begründung: Bahnfahrten mit derart hohen Geschwindigkeiten lasse das marode Streckennetz ja ohnehin nur noch in seltenen Fällen zu. Vielleicht sind es Begebenheiten wie die beschriebenen Beispiele, die Leute wie Guido P. zu der Aussage verleiten lassen, Deutschland sei eine Bananenrepublik.