© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Zurück zur Kritik der politischen Ökonomie
Dokumentenerbe: Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski hat „Das Kapital“ von Karl Marx überzeugend neu ediert
Jens Knorr

Der Reichthum der Gesellschaften, wo kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‘ungeheure Waarensammlung’, die einzelne Waare als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Waare.“ Mit diesen Worten beginnt das Buch, das 2013, zusammen mit der ersten Seite des handschriftlichen Manuskripts des „Manifests der Kommunistischen Partei“, von der Unesco auf gemeinsamen Vorschlag der Niederlande und Deutschlands in das Register „Memory of the world“ aufgenommen wurde, genauer: Marxens persönliche Ausgabe mit seinen eigenen Anmerkungen.

Aber haben wir richtig gelesen: „Reichthum“, „Waarensammlung“, „Waare“, „wo“, und nicht „in welchen“? In dem blauen Band Nr. 23 der Marx-Engels-Werke (MEW) – die kleine Schwester der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) – steht das so nicht, und schon gar nicht in diversen Volksausgaben und Kurzfassungen von „Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band“. Wenn die Rede vom „Kapital“ geht, dann geht sie meist allein von diesem ersten Band.

Lange war es nur ein Gerücht, und man vermeinte schon, es mit einer unendlichen Geschichte, wenn nicht einer modernen Legende zu tun zu haben, da hat der Ökonom und Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski (Jahrgang 1944) gerade noch rechtzeitig zum Ende des „Kapital“-Jubiläumsjahres 2017 und zum Beginn des diesjährigen Marx-Gedenkens eine neue Textausgabe dieses ersten Bandes vorgelegt, die es in sich hat. Das jetzt vollendete Projekt hatte er „so um 1997 herum“ begonnen, dem Todesjahr seines Vaters Jürgen Kuczynski. Der Vater nannte sich einen „fröhlichen Marxisten“, der Sohn nennt sich einen „skeptischen Optimisten.“

Konkurrierende Textausgaben

Aber gibt es nicht bereits genügend Ausgaben des Buches, das, wie jüngsten Tags zu erfahren war, heutigen Tags selbst Klosterbuchhandlungen im Sortiment führen – nicht das Buch selbigen Titels von Kardinal Reinhard wohlgemerkt, sondern das von Karl? In seiner „Vorbemerkung für jene, die ein Buch mit dem Nachwort anfangen zu lesen“, beantwortet Kuczynski die „naheliegende Frage“, warum den verschiedenen Ausgaben eine weitere hinzuzufügen war, und begründet sein editorisches Vorgehen aus der „ziemlich verwickelten Editionsgeschichte des Buches“:

Die gegenwärtig konkurrierenden lassen sich auf zwei Ausgaben zurückführen. Der Text in MEW 23 basiert auf der vierten, von Friedrich Engels durchgesehenen und herausgegebenen Auflage, Hamburg 1890, der Text der von Karl Kautsky 1914 herausgegebenen „Volksausgabe“ auf der zweiten deutschen Ausgabe von 1872, die Marx herausgegeben hat. Die Version von Rudolf Hickel aus den 1960er Jahren, der sogenannte „Ziegelstein“ der westdeutschen Studentenbewegung, war ein Versuch, die Vorzüge beider Ausgaben zu kombinieren.

Engels hatte in den von ihm herausgegebenen Auflagen – der dritten (1883) und der erwähnten vierten (1890) Auflage – Eintragungen aus Marxens Handexemplaren berücksichtigt, die Marx nach Erscheinen der Zweitausgabe (1872) in der französischen Ausgabe (1872/75) vorgenommen hatte. Nach Marxens Willen sollte die französische Ausgabe, wo er „manches Neue zugesetzt und vieles wesentlich besser dargestellt“ habe (MEW 34:295), im Vergleich mit der zweiten deutschen Ausgabe zur Grundlage aller nachfolgenden Ausgaben und Übersetzungen werden.

Rechenschaft über editorische Entscheidungen

Im Gegensatz zu den Deutschen Kautsky und später Karl Korsch, dessen „populäre Ausgabe“ 1932 erschienen war, erklärte man im Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut (MELI) die vierte Ausgabe von Engels zu einem kanonischen Text und alle Versuche, über Engels hinauszugehen, zu Häresie. Im Vorgängerinstitut, dem Marx-Engels-Institut (MEI), das unter Leitung des großen David B. Rjazanov stand, hatten Valerie (Wally) Kropp-Loeffler und Kurt Nixdorf, Mitglieder der „ökonomischen Brigade“ des MEI, im Februar 1931 vorgeschlagen, für eine neue Volksausgabe „mehr als Engels“ aus der französischen Ausgabe zu übernehmen. Stalin hatte das Institut schließen, Rjazanov verhaften und verbannen, Kropp und Nixdorf entlassen, Rjazanov und Nixdorf 1938 nach Geheimprozessen erschießen lassen. Was Valerie Kropp geschah, ist unbekannt.

Der Vorschlag von Kropp und Nixdorf sei die „entscheidende Anregung für die Inangriffnahme der Neuen Textausgabe“ gewesen, schreibt der Anti-Stalinist Kuczynski. Auch er hat die zweite deutsche Ausgabe als „unverrückbare Grundlage“ seiner eigenen genommen, aber nicht einfach nur „mehr als Engels“ aus der französischen Ausgabe übernommen, sondern alle von Marx verfaßten und von Engels editierten Ausgaben und Übersetzungen, Manuskripte und Briefe in Archiven und Bibliotheken von Moskau, über Amsterdam und London bis New York sowie die in der MEGA erfaßten Materialien zu Rate gezogen, kurz: den aktuellen Forschungsstand eingearbeitet.

Über jede seiner editorischen Entscheidungen hat Kuczynski detailliert Rechenschaft abgegeben. Es war eine nicht nur kaufmännisch kluge Entscheidung, den historisch-kritischen Apparat, der mit knapp tausend Seiten mehr Umfang als der Text hat, auf eine USB-Card auszulagern. Diese enthält auch den mit der Buchausgabe seiten- und zeilenidentischen Text, so daß Text und Apparat auf dem Bildschirm gleichzeitig nutzbar sind, soweit es die ärmliche Suchfunktion ermöglicht. Der lediglich am Text Interessierte wird in seinem dunklen Drang nicht durch zermürbendes Nachschlagen im Anhang vom rechten Wege abgehalten.

Wer aber soll dieser Interessierte sein? Das Buch dürfe nicht mehr als 20 Euro kosten, hatte der Arbeiterbewegungs-Marxist Kuczynski gefordert, damit „diese Ausgabe von Studierenden gelesen wird, von Gewerkschaftsmitgliedern, von Betriebsräten“. Soll unter diesen der Interessierte sein?

„Das Kapital“ provoziert Linke mehr als Rechte

Die Arbeiter „heute haben etwas mehr zu verlieren als ihre Ketten“, weiß Kuczynski. Die bei Rechten wie Linken so beliebte Schnitzeljagd nach dem historischen Subjekt scheint sich um so aussichtsloser zu gestalten, je weiter Klassen, Schichten, Gruppen, Individuen zu bloßen Anhängseln des „automatischen Subjekts“, des sich selbst verwertenden Werts, degenerieren. Die Warensubjekte rufen wie eh und je den Staat gegen den Markt an und den Markt gegen den Staat, da doch Staatsversagen und Marktversagen längst identisch geworden sind, wie der marxistische Philosoph und Publizist Robert Kurz bereits 1991 in seinem Buch „Der Kollaps der Modernisierung“ konstatiert hat. Wer aber in der Weltkrise des Kapitals die Zirkelschlüsse der herrschenden ökonomischen Theorien für nicht überzeugend hält, ihre mathematischen Modelle als ideologisch motivierten Bluff, die hegemonialen Kategorien als Leerformeln erkannt hat, wer von der Zirkulationsoberfläche zu den unauflösbaren Widersprüchen unseres Wirtschaftens hinunterstoßen will – der könnte jener Interessierte sein.

Es ist ein nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst Thomas Kuczynskis, mit dem „autoritativen Charakter“ des Buches gebrochen zu haben. Kuczynski hat keinen „endgültigen“ Text erstellt, aber einen gültigen Text entfaltet, ohne aus ihm die Spuren von dessen Erarbeitung und Überarbeitung zu tilgen. Er hat dem Untertitel des Buchs wieder Geltung verschafft. Wenn das Kapital selbst als „der prozessierende Widerspruch“(MEW 42:601) erscheint, wie sollte seine Darstellung dann nicht selber Prozeßcharakter tragen müssen?!

Das „Kapital“ provoziert Anfänge, Nichtleser mehr als Leser, Linke mehr als Rechte. Mit einem geozentrischen Weltbild im Kopf läßt sich die „Planetenschleife“ zwar gut berechnen, aber schlecht erklären. Die Krise des warenproduzierenden Systems an der absoluten Schranke der Verwertung des Werts läßt sich ohne Wertkritik und Wertabspaltungskritik nicht erklären, sie sind in der Mehrwerttheorie des „Kapitals“ angelegt. Um Elemente der – nach außen wie innen blutigen – farcenhaften Operetten-Regime in den Kernländern des Kapitals zu erklären, dürfte allerdings die Kenntnis von Marxens Schrift „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ hinlangen.

Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Neue Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski. VSA: Verlag, Hamburg 2017, 798 Seiten, 19,80 Euro