© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Historische Täter-Opfer-Umkehr
Die Sowjets hatten nie die Absicht, die Deutschen in Ostpreußen zu dezimieren / Abertausende starben, weil die Wehrmacht „verbrannte Erde“ hinterließ
Oliver Busch

Die Deutschen sind an allem schuld. Diesem Credo gehorchend, schreibt eine jüngere Generation von Zeithistorikern mit nahezu religiösem Fanatismus im Krieg gegen das Eigene seit Jahren die Geschichte des Zweiten Weltkriegs um. Schuld sind immer die Deutschen, und zwar beileibe nicht nur an der Auslösung des Krieges.    

Sehr früh zeichnete sich dieser würdelose Hang zur geschichtspolitischen Selbstanklage in den Publikationen über Flucht und Vertreibung der Bevölkerung aus den östlichen Provinzen Deutschlands ab. Bereits im Zuge der Debatten um die „Ostverträge“ der sozialliberalen Regierung Brandt-Scheel hieß es, man habe Warschau und Moskau nichts preisgegeben, was nicht schon von Adolf Hitler verspielt worden sei. 

Im Umfeld der Kontroversen, die das von Erika Steinbach (CDU), der damaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, seit Ende der 1990er forcierte Projekt eines Zentrums gegen Vertreibung begleiteten, belasteten linke Historiker das Schuldkonto der Ostdeutschen und der 1944/45 in den Ostprovinzen kämpfenden Wehrmacht weiter mit stattlichen Hypotheken. Seien doch die Opfer, nebenbei eilig reduziert von etwa zwei Millionen auf 200.000 Tote, letztlich den NS-Gauleitern mit ihren verspäteten Räumungsbefehlen sowie den ihre Prioritäten brutal exekutierenden Militärs anzulasten. Nicht die Rote Armee, nein, die im verbohrten Endsiegglauben verblendeten Deutschen trügen die Hauptverantwortung für die Exzesse im deutschen Osten.

Dieses mittlerweile als „Stand der Forschung“ geltende Narrativ will der Niederländer Bastiaan Willems mit einer an der Universität Edinburgh entstandenen Dissertation über Ostpreußen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, von der jetzt ein Auszug in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (3/2018) erschienen ist, um einige Facetten bestätigen. Denn neue Einsichten vermag sein Beitrag über den „Rückzug der Wehrmacht durch Ostpreußen und seine Folgen“ nicht zu vermitteln. Auch keine neuen Quellen, obwohl es Unentdecktes gibt, das einer Erschließung harrt. Stattdessen inspiziert Willems zigmal ausgebeutetes Material aus dem Institut für Zeitgeschichte, aus dem Freiburger Militärarchiv oder aus der Ost-Dokumentation des Bundesarchivs. 

Deutsche Opfer ihrer „lange geschürten Vorurteile“ 

Aus all dem saugt Willems Honig für seine zeitgemäße These, der zufolge die ins kollektive Gedächtnis eingeschriebene Erzählung von der sowjetischen Verantwortung für die zwischen 1945 und 1948 im nördlichen Ostpreußen, vor allem in Königsberg, durch Gewalt, Hunger, Krankheit umgekommenen Deutschen eine Legende sei.

Nicht die Rote Armee und nicht ihre Militärverwaltung haben mindestens 30.000 Tote allein in Königsberg auf dem Gewissen, sondern NSDAP und Wehrmacht. Weil die Evakuierung großer Teile der ostpreußischen Bevölkerung versäumt worden sei, hätten zum totalen Kriegseinsatz, etwa in der Festung Königsberg, gepreßte Zivilisten überhaupt in die Hände der Sowjets fallen können. Also seien sie in doppelter Hinsicht Opfer geworden. Einerseits 1944/45 aufgrund der Unterordnung ihres Schicksals unter die Interessen der Reichsverteidigung im Osten, die Schiffsraum für Nachschub über See und nur sekundär für ihren Abtransport reservierte. Andererseits aufgrund der Mobilisierung des Landvolks für „Ostwall“ und Volkssturm, aufgrund von Plünderungen und „verbrannte Erde“ hinterlassenden Zerstörungen. 

Im derart verwüsteten Land, angeblich wegen „sandiger Anbauflächen“ ohnehin nie sonderlich ertragreich, seien die Ernten seit dem Frühjahr 1945 ausgeblieben. Von einem sowjetischen „Kalkül des Hungers“, wie Willems unter Verweis auf einen Aufsatz von Bernhard Fisch, einem DDR-Veteranen der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, kühn behauptet, könne keine Rede sein. Es gebe mithin keinen Beweis dafür, daß die Sowjets, denen die Besiegten leider „mit lange geschürten Vorurteilen“ begegnet seien, „die Deutschen mit Absicht dezimieren wollten“. 

Weitere Proben aus dem mit Grotesken solchen Kalibers (köstlich auch: General Lasch sei noch im April 1945 – völlig unverständlich – „von tiefem Argwohn gegen die Sowjets erfüllt“ gewesen) gespickten Aufsatz sind nicht erforderlich, um Willems’ Geschichtsschreibung im moralischen Konjunktiv – hätte die Wehrmacht 1944 kapituliert, wäre der Provinz viel Leid erspart geblieben – als überflüssig einzustufen.