© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Fünf Minuten schneller zum Tod
Neue Richtlinien in der Schweizer Transplantationsmedizin sollen Spendenbereitschaft erhöhen
Hans-Bernhard Wuermeling

Ende vorigen Jahres warteten 7.620 Patienten aus Deutschland auf eine Spenderniere. 1.044 hofften laut der niederländischen Stiftung Eurotransplant auf eine neue Leber und 703 auf eine Herztransplantation. Auch in der Schweiz gibt es weit mehr Kranke auf den Wartelisten als Spenderorgane. Damit künftig mehr Schweizer ihre Spendenbereitschaft erklären, hat das zuständige Bundesamt für Gesundheit (BAG) an einem typischen Fallbeispiel den Ablauf einer Organspende erklärt.

Was ist, wenn der Patient nur wie tot erscheint?

„Im Spital erfährt die Ehefrau vom Arzt, daß das Hirn ihres Mannes durch eine Hirnblutung so stark geschädigt ist, daß keine Hoffnung mehr besteht. Nach weiteren Erklärungen des Arztes muß sie akzeptieren, daß es nichts mehr gibt, was das Leben ihres Mannes retten könnte. Alle weiteren medizinischen Maßnahmen würden höchstens das Sterben hinauszögern“, schreibt das BAG. Der Arzt spreche dann die Familie auf das Thema Organspende an. Wenn der Mann keine Spendekarte ausgefüllt hatte, sei es an seiner Familie, die Entnahme von Organen, der Augenhornhaut und weiterer Gewebe zu gestatten. Aber können die Angehörigen wirklich sicher sein, daß der Mann tot ist, wenn ihm die Organe entnommen werden? Er scheint noch zu atmen, wenn auch nur dank der medizinischen Apparate. Was ist, wenn er nur wie tot erscheint, aber nicht tot ist?

Die Furcht vor dem Scheintod gibt es seit Jahrhunderten. Bekannt sind die rührenden Gedichte von Friederike Kempner (1836–1904), etwa des „Schlesischen Schwans“: „Stürmisch ist die Nacht, / Kind im Grab erwacht (…) / Überall ist‘s zu. ‘Mutter, wo bist du?’“ Und als Reaktion auf diese herzzerreißende Klage läßt die preußisch-jüdische Lyrikerin einen tapferen Kriegersmann dichten: „Ein Leichenhaus, ein Leichenhaus, / ruft er aus vollem Halse aus. / Wir wollen nicht auf bloßen Schein / beseitigt und begraben sein.“ Mit solchen Gedichten und Eingaben an die Behörden hat Kempner schließlich erreicht, daß in den Gemeinden Leichenhäuser vorzuhalten sind. Wegen der Wohnraumknappheit suchte man die Toten möglichst schnell aus den Wohnungen zu entfernen, sie aber sicherheitshalber noch nicht zu begraben. Das Problem, ob und wie die wirklich oder nur scheinbar Gestorbenen zu behandeln seien, wirft auch heute noch die Frage auf, wie lange jemand, der ohne Atem- und Herzschlag ist, weiter mit künstlicher Beatmung zu behandeln sei. 

Mit der apparativen Beatmung, die man im Einzelfall erst nach längerer Zeit als nutzlos erkannte, nahmen aber jene Fälle massiv zu, die die Kapazitäten der Intensivstationen der Krankenhäuser überstiegen. Aus diesem Grunde wurde ein Kriterium für die Beendigung jener lebenserhaltenden Maßnahmen gesucht, die zu ihrem Zweck in keinem vernünftigen Verhältnis mehr standen. Vor fünfzig Jahren wurde dazu der Tod des gesamten Gehirns vereinbart. Zunächst sollte seine Feststellung nur das Abschalten lebenserhaltender Maßnahmen moralisch rechtfertigen. Ein Arzt, der eine solche Abschaltung vollzieht, müßte aber befürchten, deswegen einer Tötung beschuldigt zu werden. Damit wird jedoch der moralische Unterschied zwischen Tun und Lassen, zwischen Töten und Sterbenlassen völlig verkannt.

Unehrlichkeit bringt eher Schaden als Nutzen

Der entscheidende Fehler der Definitoren war, das Konzept des Hirntodes nicht nur zum Absetzen lebenserhaltender Behandlungen moralisch zu rechtfertigen. Weit darüber hinaus befürchteten sie aber, sich damit der Tötung eines Lebenden schuldig und angreifbar zu machen. Um das auszuschließen, bezeichnen die Definitoren den nach ihrer Meinung noch lebenden Kranken als Leiche. Die uralte Furcht vor dem Scheintod wurde mit diesem Beschluß erneut angefacht und machte dieses verfehlte Hirntodkonzept und die Organentnahme fragwürdig. Die Einwände gegen den Hirntod und gegen die Organentnahme sind aber unberechtigt und müßten kritisch hinterfragt werden.

Die Feststellung eines Hirntodes ist allerdings nach Staaten extrem verschieden. In Deutschland gelten die strengsten Vorschriften. Danach sind viele klinische Untersuchungen erforderlich, die nach Stunden jeweils durch zwei Ärzte zu wiederholen sind. In der Schweiz hingegen ging man kurzerhand davon aus, daß zehn Minuten nach dem Ende der Herztätigkeit auch der Hirntod eingetreten sei. Man weist den Hirntod also nicht nach, sondern nimmt ihn nur an. 

Das wäre ein großer Vorteil für die Transplantationsmedizin. Hierzu wurden von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) voriges Jahr veränderte Richtlinien erarbeitet, die heftig diskutiert wurden. Unbemerkt blieb dabei, daß die genannte Wartezeit neuerdings nur noch fünf Minuten beträgt. Das Risiko, den Tod noch Lebender in Kauf zu nehmen, wächst also erheblich. Es ist verständlich, daß die schweizerischen Transplantationsmediziner diese Tatsache nicht zu verbreiten suchen, da sie die Spendenbereitschaft verringert.

Solange solche Unehrlichkeit zur Förderung der Transplantationsmedizin Usus ist, wird ihr auf Dauer eher Schaden als Nutzen erwachsen. Scheibchenweise wird versucht, die moralischen Bedenken gegen Organspende zu ignorieren. Die Transplantationsmedizin bleibt bei Einhaltung moralischer Grenzen eine segenbringende Sparte und sollte sich nicht selbst das Wasser abgraben. Mit dem in Deutschland sehr sorgfältig definierten Hirntod ist davon auszugehen, daß das „Ganztotsein“ besser als mit jeder anderen Todesfeststellung erreicht ist, denn mit dem Hirntod liegt der Eintritt ihres Ganztodes schon hinter ihr.

Es gibt also keine sicherere Todesfeststellung als diejenige mittels Hirntod, in dem Sinne, daß der Zeitpunkt des Ganztodes der Hirntodfeststellung immer vorausgeht. Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen, sondern das sichere Zeichen dafür, daß der Tod bereits zuvor eingetreten ist – wenn es auch „der Sinn nicht sieht“, da Herz- und Kreislauftätigkeit künstlich erhalten werden.






Prof. Dr. med. Hans-Bernhard Wuermeling war Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg.





Richtlinien zur Hirntod-Feststellung

Das Schweizerische Transplantationsgesetz (SR 810.21) lege „als Kriterium für den Tod eines Menschen den irreversiblen Ausfall sämtlicher Funktionen seines Hirns einschließlich des Hirnstamms fest“, heißt es in den Richtlinien der Medizinischen Akademie SAMW. Nach einer ersten Feststellung des Kreislaufstillstands (fehlende Herzaktivität) mittels Echokardiographie (TTE/TEE) und nach einer anschließenden Wartezeit von fünf Minuten ohne Durchführung von Reanimationsmaßnahmen würden dann die nachfolgenden sechs klinischen Zeichen geprüft:

„1. komatöser Zustand (areaktive Bewußtlosigkeit);

2. beidseits mittelweite bis weite, auf Licht nicht reagierende Pupillen;

3. Fehlen der vestibulo-okulären Reflexe (VOR);

4. Fehlen der Kornealreflexe;

5. Fehlen zerebraler Reaktionen auf schmerzhafte Reize;

6. fehlende Reflexantwort auf tracheale und pharyngeale Reize.“

SAMW-Richtlinien zur Feststellung des Todes vor Organtransplantationen:  samw.ch