© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Der Flaneur
Zugfahrt in den ersten Job
Elke Lau

Hauptbahnhof Greifswald. Wir warten auf den Regionalzug nach Hamburg, für den wir eine Kleingruppen-Karte gelöst haben. Der Bahnsteig ist überwiegend von Studenten bevölkert. Wir beobachten einen jungen Mann, lang wie Dirk Nowitzki und gekleidet wie ein Geschäftsreisender, der verschiedene Leute anspricht. Die schütteln immer den Kopf, und er zieht weiter. Auch uns fragt er: „Sind Sie vielleicht im Besitz eines Gruppentickets, auf dem ich bis Hamburg mitreisen könnte? Ich würde mich auch an den Kosten beteiligen.“

Wir sind einverstanden und bereuen diese Entscheidung nicht, denn er hilft uns unaufgefordert beim Verstauen unseres umfangreichen Gepäcks. 

Wir formulieren diplomatische Antworten auf eventuelle Fragen und raten zu Ehrlichkeit.

Zuerst wirkt unser „Gast“ schüchtern, aber allmählich taut er auf, erzählt von dem kürzlich bestandenen Examen, seiner Bewerbung bei einem Hamburger Unternehmen und dem zweiten Vorstellungsgespräch, zu dem er für heute eingeladen wurde. Schließlich vertraut er uns an, daß er unsicher ist, wie er sich gegenüber dem zierlichen Personalchef verhalten soll, den er um gut zwei Haupteslängen überragt. 

Wir formulieren diplomatische Antworten auf eventuelle Fragen und raten zu unbedingter Ehrlichkeit. Als wir dann mit verteilten Rollen üben, dauert es nicht lange, bis wir uns über die nun immer witziger, ja sarkastisch werdenden Dialoge vor Lachen biegen. Zum Glück ist unser Abteil leer.

Kurz vor dem Ziel teilen wir brüderlich unsere Käsestullen, er spendiert seine Reserveflasche Wasser, und dann ist es Zeit zum Abschiednehmen. Wir drücken ihm unser Ticket für die Heimfahrt in die Hand, lehnen seinen Anteil entrüstet ab, bestehen aber auf Nachricht, wie das Vorstellungsgespräch verlaufen ist.

Einige Tage später finden wir seine Schilderung im E-Postfach vor. Er bedankt sich ausdrücklich für unseren „Nachhilfeunterricht“ und bezeichnet ihn als „Türöffner“.