© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

„Es ist nicht kompliziert“
Migrationsreportage aus Marokko: In der Hafenstadt Tanger halten sich etwa 50.000 Schwarzafrikaner für die Überfahrt nach Europa bereit
Hinrich Rohbohm

Die flirtenden Blicke sind unmißverständlich. Vier schwarzafrikanische Frauen. Immer wieder lächeln sie zu unserem Tisch hinüber. Wir sitzen auf dem Petit Socco, dem kleinen Markt in der Médina, der Altstadt von Tanger. Jener eine Million Einwohner zählenden Hafenmetropole mit ihrer strategisch bedeutenden Lage am Eingang der Straße von Gibraltar, der Meerenge zwischen dem Altantik und dem Mittelmeer. Die spanische Küste und damit das europäische Festland ist von hier aus so nah, daß sie mit bloßem Auge zu erkennen ist.

Sehnsüchtig stehen mehrere Schwarzafrikaner auf der Aussichtsplattform der Altstadt. Sie schauen unentwegt auf den Hafen, das Meer und die dahinter liegende Küste. Dorthin, wo Europa beginnt und wo sie hingelangen wollen. Alle. Schwarzafrikaner ebenso wie zahlreiche einheimische Marokkaner, die sich schon seit Jahren im Hafen von Tanger immer wieder unter die Lkws klemmen, um ungesehen auf einer der Fähren ins spanische Algeciras zu gelangen.

Unten an der Promenade, außerhalb der Altstadt, existiert eine andere Welt. Keine Schwarzafrikaner. Statt dessen zahlreiche marokkanische Familien mit ihren Kindern. Nicht wenige von ihnen kommen aus Europa. Frankreich, Belgien, Holland. Sie machen Urlaub in ihrer Heimat. Einem Land, das in Deutschland nach wie vor nicht als sicheres Herkunftsland gilt und in das deshalb abgelehnte Asylbewerber nicht abgeschoben werden dürfen. Es sind zumeist Familien der bürgerlichen marokkanischen Mittelschicht, die sich hier am Strand tummeln, in den Grünanlagen sitzen oder den Musikbands auf der Promenade zuhören.

Schwarze sind dort kaum anzutreffen. Sie halten sich vorwiegend in den verwinkelten engen Gassen der Altstadt auf. In den zahlreichen Cafés, den Restaurants oder an den vielen Zigarettenständen vor den weiß verputzten Flachdachhäusern. Es riecht nach orientalischen Gewürzen. Menschenmassen zwängen sich durch die engen Gänge. Touristenführer bieten hartnäckig ihre Dienste an. „Möchtest du die Stadt sehen? Die Kasbah, ja? Woher kommst du? Deutschland? Ich spreche auch Deutsch, habe da zwei Jahre gelebt. Duisburg“, drängt sich einer der Händler in deutscher Sprache auf. Von der in unmittelbarer Nähe befindlichen Großen Moschee dringt laut der Ruf des Muezzins herüber.

„Mit dem Flugzeug von    Dakar nach Casablanca“

Petit Socco ist der Platz, an dem Migranten und ihre Schleuser Deals für die illegale Überfahrt nach Europa aushandeln. An dem sie sich über Preise, Treffpunkte und Abfahrtzeiten unterhalten. Im Zwielicht der schummrigen Bars und Pensionen, an den kleinen, diskreten Tischen der Cafés. Immer wieder tauchen kleine Gruppen schwarzer Migranten auf, verschwinden in immer kleineren Gassen, blicken sich immer wieder mißtrauisch um, prüfen, ob ihnen jemand folgt.

Noch immer lächeln uns die vier Schwarzafrikanerinnen zu. Zum Schein gehen wir auf den Flirt ein, gehen auf den Tisch der vier Migrantinnen zu. Kurze Begrüßung. „Bonjour. Comment allez-vous?“ Es folgt Smalltalk auf französisch. Die vier kommen aus dem Senegal. Sie haben nicht etwa einen beschwerlichen Fußweg durch die Sahara genommen: „Wir sind mit dem Flugzeug von Dakar aus nach Casa­blanca geflogen“, erzählt eine der vier Frauen, die sich als Fatima vorstellt. Von der größten Stadt Marokkos aus weiter mit dem Bus nach Tanger. Und ja, sie wollen nach Europa. Jeder hier will nach Europa. Wir tauschen mit Fatima unsere Mobilnummern, melden uns später bei ihr per WhatsApp, wollen mehr über die Migrantenrouten von Afrika nach Spanien in Erfahrung bringen.

In den vergangenen Wochen war die Zuwanderung von Schwarzafrikanern nach Europa besonders in Spanien stark angestiegen, nachdem die neue italienische Regierung angekündigt hatte, künftig keine Schiffe mehr mit Migranten an Bord in Italiens Häfen hineinzulassen. Über 20.000 Migranten sind in diesem Jahr bereits auf der Iberischen Halbinsel angekommen. So viel wie derzeit nirgendwo anders in Europa. Erst vor drei Wochen waren rund 600 Migranten gewaltsam in die spanische Exklave Ceuta in Nordafrika eingedrungen, attackierten Polizisten mit selbstgebauten Flammenwerfern und stürmten einen Grenzzaun. Sie hatten Löcher in den Zaun geschnitten, bewarfen Grenzschützer mit gefährliche Verätzungen verursachendem Branntkalk sowie mit Fäkalien. Polizeiangaben zufolge seien die Eindringlinge „so brutal wie noch nie zuvor“ vorgegangen.

Der an Ceuta angrenzende Staat Marokko ist für Migranten das wichtigste Land zur Überfahrt auf das spanische Festland. Allein in Tanger halten sich Schätzungen zufolge derzeit etwa 50.000 schwarzafrikanische Einwanderer mit dem Ziel Europa auf. Wie viele es genau sind, kann zur Zeit niemand genau sagen.

Viele Migranten verstecken sich in den Wäldern der nordafrikanischen Küste vor der Polizei. Zumeist in der Nähe von Tanger, der weiter südöstlich gelegenen 400.000-Einwohner-Stadt Tétouan oder rund um Ceuta. Andere haben sich in Zimmern der verwinkelten Altstädte von Tanger und Tétouan einquartiert.

Es dauert nicht lange, bis Fatima auf die WhatsApp-Nachricht antwortet. Ob sie aus dem Senegal aus politischen Gründen geflohen sei, wollen wir wissen. „Nein.“ Ob es im Senegal zu gefährlich für sie sei, fragen wir weiter. Fatima verneint erneut. „Ich will nach Europa, um dort zu arbeiten“, sagt die 25jährige. „Als Kellnerin in einem Restaurant, vielleicht in Spanien, vielleicht auch in Frankreich, Belgien oder Deutschland.“ Ihren sechs Jahre alten Sohn will sie später nachholen.

Überfahrt mit Motorboot ist die Komfort-Variante

Einen Tag später antwortet Fatima nicht mehr. Knapp 36 Stunden Funkstille. Dann ein Lebenszeichen. Sie schickt Bilder von schwarzen Migranten auf See, die eng zusammengekauert auf einem Boot sitzen. Dann ein weiteres von Schwarzen am Hafen. „Sind die Fotos von dir?“ „Ja.“ „Hast du versucht, nach Europa zu kommen?“ „Ja, zusammen mit 19 anderen.“ Sie hatten am Petit Socco Kontakt mit einem Schleuser aufgenommen. 1.000 Euro sollte die illegale Überfahrt kosten. Treffpunkt: Mesnana, ein in der Nähe des Flughafens gelegener Stadtteil von Tanger. „Wir wurden dann mit Autos in ein Waldgebiet westlich der Stadt gebracht. Dort sollten wir auf das Boot warten.“ Doch die Gruppe hatte aus ihrer Sicht Pech, die marokkanische Marine entdeckte schnell das Boot auf See. Die Soldaten bringen die Migranten zurück nach Tanger. Und übergeben sie dort nicht etwa der Polizei, sondern lassen sie wieder laufen. Die Fahrt auf motorisierten Booten ist die komfortablere Version der illegalen Migration nach Europa. Oft wählen Afrikaner die billigere Methode der Überquerung per Schlauchboot.

Fatima will es in dieser Woche erneut versuchen. „Kannst du mir 1.500 Euro geben?“ „Warum ist es jetzt mehr Geld?“ „Um die marokkanische Marine zu schmieren.“ Zum Schein willigen wir ein. „Bist du sicher, daß es diesmal klappt?“ „Ja, wir haben schon mit Schleusern gesprochen. Senegalesen. Landsleute von mir. Sie haben ein Boot, mit dem sie regelmäßig Leute rüberbringen. Sie kennen die Gewässer und leben von dem Geschäft. Sie schmieren die Marine regelmäßig.“ „Aber die Straße von Gibraltar ist gefährlich, dort sind starke Strömungen“, wenden wir ein.

Fatima postet Bilder von Schwarzen in Schlauchbooten, die in ihrer senegalesischen Facebook-Community die Runde machen. Ein spanisches Rettungsschiff ist darauf zu sehen, wie es Schwarzafrikaner aus Schlauchbooten aufnimmt. „Mach dir keine Sorgen“, schreibt sie. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß die sogenannte „Rettung“ von Migranten im Mittelmeer einen Pullfaktor ersten Grades erzeugt, so ist er allein schon durch diesen Beitrag in Wort und Bild gegeben. „Es ist nicht kompliziert“, sagt Fatima.

Ihre Pläne zeigen, wie einfach die illegale Einreise nach Europa sein kann, wenn Migranten die hierfür benötigten Summen aufbringen können. Eine Möglichkeit, sich das Geld zu beschaffen, ist es, eine Liebesbeziehung zu Europäern aufzubauen. Afrikanische Frauen beginnen hierfür, mit Europäern zu flirten. Zumeist sind es jedoch männliche Migranten, die einen solchen Versuch unternehmen. In den Straßen von Tanger sind des öfteren vorwiegend ältere Damen zu sehen, die mit einem jungen Schwarzafrikaner Händchen haltend durch die Gassen der Altstadt schlendern. In der Regel münden diese Art von Beziehungen in Geldforderungen wie in unserem Fall.

Wir wollen wissen, wie wir Fatima das Geld überbringen sollen. „Einfach per Western Union überweisen.“ Fatima nennt hierfür ihren Namen und eine Telefonnummer, zur Legitimation wird sie ihren Reisepaß verwenden. Das Geld für ihren Flug von Dakar nach Casa­blanca sowie für ihren ersten illegalen Einreiseversuch nach Europa hatte sie übrigens von Bekannten im Senegal geliehen bekommen. Das geschieht oft so. Die Geldgeber wissen: Wer es nach Europa schafft, der bekommt Geld. Für afrikanische Verhältnisse viel Geld, das die Migranten später um ein Vielfaches mehr wieder nach Afrika zurückschicken werden.