© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Pankraz,
die Hitzenacht und der Geist der Stille

Die größte Hitze scheint vorbei, die Nächte sind wieder halbwegs kühl,  man kommt einigermaßen zum Nachdenken und schläft auch besser. „Stille Nacht“ – das wurde während der Hitzewochen bei vielen regelrecht zum rührenden Sehnsuchtswort, obwohl man die Wendung an sich ja für den Tag der Geburt Jesu Christi reserviert hat und es hier im Sommer 2018 nicht nur heiß, sondern auch besonders laut zugeht.

Die Leute, die sich tagsüber vor der Sonne verkriechen und nur noch vor sich hinjapsen, wollen in der Nacht wenigstens so lange wie möglich freizeitlich zusammensein. Die Kneipen und ihre Vorgärten quellen über vor sprachlichem Getöse, auf Marktplätzen ertönt allerorten laute Musik, dazu Hundegebell, sinnlose Autohuperei und donnernder Beifall für irgendwelche Feuerwerke, die mit Knall und Zisch zum Himmel emporsteigen.

Und das Fernsehen lieferte dazu seinen eigenen Krawall- und Jubelanteil mit schier endlos ausgedehnten Festivals des Schlagers und der Volksmusik. Wer die „wahre Stille“ suchte, aus welchen Gründen auch immer, der war in letzter Zeit besonders schlecht dran. Doch gibt  es sie überhaupt, die „wahre Stille“, ist sie nicht eine bloße Einbildung, eine Illusion? Wenn damit die absolute Stille gemeint sein soll, dann lautet die Antwort eindeutig: Nein. 

Wer ein Gehör hat, der hört beispielsweise auch noch im „Lärmvakuum-Raum“ des Pariser Technikmuseums in La Villette, ja, es dröhnt ihm dort regelrecht in die Ohren: Der Besucher vernimmt plötzlich überlaut das Pulsieren des eigenen Blutes. Und Physiologen haben herausgefunden, daß das Ohr selber Geräusche hervorbringt. Es finden sich dort eine Reihe von Mechanismen zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts, die eigene Schwingungen erzeugen. Wenn die feinen Härchen der sensorischen Zellen von diesen Schwingungen getroffen werden, ziehen sie sich mit Hilfe bestimmter Proteine zusammen und erzeugen Akustik.


Auch psychologisch bilden wir uns die vollkommene Stille immer nur ein. Stille ist ein relativer Begriff. Es gibt Geräusche, darunter sehr laute, an die wir uns derart gewöhnen, daß wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Bleiben sie einmal aus, dann „hören wir die Stille“, das heißt die vielen feineren, aber ungewohnten Klänge und Töne, die uns ständig umgeben. Auf solche „Musik der Stille“ zielen bekanntlich die „Schweigekonzerte“ des originellen Komponisten John Cage, der seine Zuhörer dazu verführt, in die Stille hineinzulauschen.

Verbaliter zählt die Lärmerzeugung heute zu den schlimmsten Umweltverschmutzungen, die vorstellbar sind. Was wir in Wirklichkeit immer weniger ertragen, ist nicht der Lärm, sondern die Stille! Der Lärm ist weithin zur Droge geworden; viele Menschen können ohne bestimmte Geräuschkulissen nicht einmal mehr schlafen. Witwen und andere Alleinstehende empfinden ein Grauen vor dem Nachhausekommen in die leere, allzu stille Wohnung.  Der Großteil der Anrufe bei der Telefonseelsorge besteht aus solchen Menschen, die spät nachmittags, unmittelbar nach Ende des Arbeitstags, in die drückende Stille ihrer Einsamkeit zurückkehren und nichts mit sich anzufangen wissen.

Wir müssen heute das Aushalten – und das Ausnutzen – der Stille buchstäblich erst erlernen, müssen es trainieren. Die Japaner, deren zen-buddhistische Tradition fast gänzlich auf Stille-Training beruht, sind uns da weit voraus. Ihre Wissenschaftler sind gerade dabei, eine ganze „Psycholinguistik des Schweigens“ zu entwickeln. Denn Stille ist ja nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, Ausstieg aus der zwischenmenschlichen Kommunikation, sie ist im Gegenteil, in Form des beredten Schweigens, ein erstrangiges Instrument der Kommunikation, dessen Möglichkeiten und Fähigkeiten endlich genau erkundet und geordnet werden müssen.

Der französische Schriftsteller und Zen-Meister Marc de Smedt, von dem auf deutsch bei Bertelsmann das interessante, leider auch etwas sektiererisch wirkende Buch „Das Lob der Stille“ erschienen ist, hat darin aufgelistet, welche Formen das beredte Schweigen annehmen kann. Es kann unter anderem  hartnäckig und unzufrieden sein, dumpf oder zustimmend, schmollend, bedeutsam, gleichgültig, lustlos, fassungslos, eisig, fromm, verschämt, diskret, erzwungen, verwirrt, haßvoll, heiter, lastend, gar tödlich.


Viele wichtige Sozialpraktiken beruhen auf der Stille und dem Schweigen, so etwa die Diskretions- und Schweigepflicht bei Beichtvätern, Ärzten, Rechtsanwälten, Diplomaten, das Totschweigen von Gegnern oder Konkurrenten, das genaue Dosieren von Pausen und Fermaten. Außerordentlich wichtig auch die Rolle des Schweigens in der Literatur. Die japanischen Haiku-Gedichte, tief vom Zen-Buddhismus geprägt, setzen sich alle aus einer (knappen) sprechenden und einer (unendlich) schweigenden Dimension zusammen.

Die Funktion ihrer sicht- und sprechbaren Texte besteht einzig darin, ein großes, ahnendes Schweigen zum Schwingen zu bringen, und man darf sich getrost fragen, ob das nicht die Funktion eines jeden Literaturtextes ist, auch außerhalb Japans, auch im Westen. Niemand anders als Jean-Paul Sartre hat das seinerzeit auf den Punkt gebracht. Das, was man „Stille“ nenne, so schreibt er in seinen „Wörtern“, sei immer das Ende der Diskussion, das Stillstellen des Diskurses, und somit sei die befriedigte Stille das imaginäre und geheime Ziel eines jeden geschriebenen Wortes.

Aber so wie das Wort in die Stille führt, würde Pankraz zu bedenken geben, so führt die Stille auch zurück in das Wort. Es kommt ja nicht von ungefähr, daß sich schöpferische Geister, wenn sie ein Werk beginnen wollen, stets zunächst in die Stille zurückziehen. Alle großen geistigen Taten stammen aus der Stille; sie ist das Kindbett jeglicher Inspiration, weil in ihr das hitzegeschwängerte  Zufallsgeplapper resolut ausgeschaltet wird und pure Notwenidkeit herrscht. Komisch, daß man sich ausgerechnet in den schlaflosen Hitzenächten dieses Sommers an so etwas erinnert.