© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Die Beleidigten formieren sich
Von Mesut Özil zum Hashtag #MeTwo: Zu den Debatten um Alltagsrassismus in Deutschland
Thorsten Hinz

Das sommerliche Delirium um den Fußballer Mesut Özil und die „MeTwo“-Kampagne sind nicht mit den exorbitanten Hitzegraden zu erklären. Sie lassen nur die Symptome der langanhaltenden und fortschreitenden Bewußtseinstrübung in Deutschland deutlicher als gewöhnlich hervortreten. Daher eine kurze Anamnese und Diagnostik der aktuellen Krankheitsphase.

Der in Deutschland geborene Fußballspieler Özil, Sohn türkischer Eltern, Inhaber eines deutschen Passes, der es bis in internationale Spitzenklubs und die deutsche Nationalmannschaft gebracht hat, hatte sich (gemeinsam mit dem Kollegen Ilkay Gündogan) zu einem Fototermin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zur Verfügung gestellt und ihn im Wahlkampf  als „seinen“ Präsidenten unterstützt.

Damit löste er in Deutschland einen Doppelkonflikt aus: Einen objektiven, politischen, weil Erdogan gezielt versucht, die Türken in Deutschland – mit oder ohne deutschen Paß – als fünfte Kolonne zu mobilisieren und durch sie die deutsche Politik zu beeinflussen. Özil hat sich als Helfer einer rivalisierenden Macht betätigt, was einen Bruch der staatsbürgerlichen Loyalität darstellt. Da Deutschland keine echte Staatsräson mehr besitzt und die meisten Journalisten und Politiker nicht mehr politisch zu denken gewohnt sind, wurde dieser Konflikt kaum thematisiert. Im Vordergrund stand der subjektive Konflikt, in den die tonangebenden Milieus sich gestürzt sahen, denen es in Deutschland gar nicht migrantisch genug zugehen kann. Denn aus demselben humanitaristischen Eiferertum heraus, aus dem sie den uncharismatischen Özil zum Integrations- und Vielfaltsmaskottchen erhoben haben, müssen sie den unsentimentalen Regenten Erdogan zum Gottseibeiuns erklären.

Der Bundespräsident versuchte, den offenen Bruch zwischen Staatsideologie und Wirklichkeit zu verkleistern und empfing Özil und Gündogan in fotogerechter Privataudienz. Doch es waren die deutschen Fans, die die rote Karte zückten. Sie pfiffen den integrativen Posterboy gnadenlos aus, doch gemeint war auch das falsche Spiel von Politik, Medien, Sportfunktionären und Geschäftsleuten.

Özil reagierte mit dem Rücktritt, den er in einer mit Rassismus-Vorwürfen gespickten, auf englisch verbreiteten Erklärung mitteilte. Das bedeutete einen Affront gegen den Adressaten, den es primär anging und dessen Mutter- und Amtssprache die deutsche ist. Es deutete auch darauf hin, daß es sich nur vordergründig um ein persönliches, in Wahrheit um ein politisches Dokument handelte, das auf internationale Wirkung abzielte. Zuallererst bei der Uefa, wo die Türkei mit Deutschland um die Austragung der Fußball-EM 2024 konkurriert. Die Erklärung ist somit ein zweiter illoyaler, unpatriotischer Akt.

Bedenkenswert ist die Schilderung des persönlichen Hintergrundes. Es ist viel von „Herkunft“, „Erbe“, „Ahnen“, „Wurzeln“, „Vorfahren“ die Rede, denen er mit „Respekt“ begegne und die auch sein Treffen mit Erdogan erkläre und rechtfertige, das im übrigen gar nicht politisch motiviert gewesen sei.

Özil macht gegenüber Deutschland ein ethnisch-kulturell begründetes, identitäres Exklusivrecht geltend, welches ethnischen Deutschen von amtlichen Gesinnungspolizisten als „nazistisch“ oder „rechtsextrem“ ausgelegt wird, ihnen also faktisch verboten ist. Diese diskursive Asymmetrie – das Recht auf kraftvolle Selbstbejahung einerseits, der Zwang zur Selbstnegation andererseits – stellt einen mächtigen politischen Hebel dar, den interessierte Kreise sich ungern aus der Hand nehmen lassen. 

Tatsächlich knüpft die Erklärung an den deutschen Mediendiskurs an, wenn sie die Kritik an Özil als „rechte Propaganda“ verurteilt. „Dies alles steht für das Deutschland aus der Vergangenheit, ein Deutschland, das nicht offen für neue Kulturen war.“ Dem DFB-Präsidenten Reinhard Grindel wird ein regelrechtes Sündenregister vorgehalten. Er habe 2004 als Mitglied des Bundestages behauptet, daß „‘Multikulturalität ein Mythos und eine lebenslange Lüge’“ sei. Er habe gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gestimmt und „gesagt, daß die islamische Kultur in vielen deutschen Städten zu tief verwurzelt“ sei. Beinahe drohend heißt es: „Das ist nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen.“

Man vernimmt die Stimme Erdogans und der islamischen Lobby. Natürlich meldete sich Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrat der Muslime in Deutschland, umgehend zu Wort und forderte Grindels Rücktritt. Damit maßte er sich Kompetenz in einem Bereich an, der heute wie kaum ein anderer in Deutschland für nationalen Reststolz steht. In der Affäre wird offenbar, wie der in der Links-Rechts-Schlachtordnung ausgetragene innerdeutsche Kulturkampf durch ein supranationales, kulturell-religiös aufgeladenes Konflikt-szenario überlagert und von ihm zunehmend bestimmt wird. Der internationale Bürgerkrieg, der bis 1989 zwischen dem kommunistischen Ostblock und dem Westen tobte, steht unter veränderten Vorzeichen vor einer Renaissance. 

Die doppelte Illoyalität des Mesut Özil und die latente Aggressivität der Rücktrittserklärung hätten zu neuen Einsichten führen können und müssen: über die Einfalt der Vielfalt-Propaganda; über die Integrations-Illusion; über die Identitäten von Einheimischen und Zuwanderern, die eben keine beliebigen Konstrukte, sondern verbindliche Realitäten und in bestimmten Fällen inkompatibel sind; über das gefährliche Treiben von Meinungsmachern, die die von Zuwanderern geschürte Verachtung für die „deutsche Kartoffel“ befeuern, weil sie aus der Verachtung des nationalen Selbst moralischen Zugewinn glauben ziehen zu können; über den Unsinn, die Einseitigkeit und den aktuellen Mißbrauch des Rassismus-Begriffs.

Die Funktionseliten scheuen die Debatte, weil sie ahnen, daß schon die kleinste Selbstkritik das sprichwörtliche Mikado-Stäbchen entfernt, welches den fragilen Bau zum Einsturz bringt. Dankbar greifen sie den Rassismus-Vorwurf auf, um den erzürnten Fußball-Fan, in dem sie das vorlaute Sprachrohr des Demos verorten, zum Schweigen zu bringen. Nicht Özils Fototermin, nicht die ideologische Bruchbude, nicht Merkels Grenzöffnung sind das Problem, sondern das falsche Bewußtsein ihrer Kritiker. Wenn der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) jetzt sagt: „Die deutsche Mehrheitsgesellschaft darf unser Rassismus-Problem nicht länger ignorieren oder verharmlosen“, dann spricht daraus nicht Sorge, sondern die Erleichterung eines Altparteien-Vertreters, endlich wieder in die Offensive zu kommen.

Weil knüpfte an die #MeTwo-Kampagne an, die den vermeintlichen Rassismus der Deutschen anprangert. An die Spontanität der Aktion mag glauben, wer will. In der Sache gehorcht sie den Regeln der psychologischen Kriegsführung. Der Initiator, der 25jährige Ali Can, wird als „Sozialaktivist“ und „Trainer für interkulturelle Toleranz“ vorgestellt. Wie wird man und was kann man als solcher? Über welche Fähigkeiten verfügt man? Wer sind die Entdecker und Förderer? Aus welchen Steuer- und Stiftungstöpfen wird der Spaß bezahlt? Und kann ein Deutscher, der nach Amerika, China oder in die Emirate auswandert, dort ebenfalls diesen Beruf ergreifen?

Der Ertrag der Kampagne ist so erwartbar wie dürftig. Zu Wort melden sich vor allem muslimische Beschwerdeführer, also Vertreter jener Migranten-Gruppe, welche durchschnittlich die höchste Delinquenz, die höchste Gewalt- und Transferempfänger-Quote, dafür den niedrigsten Bildungsstand aufweist. Die eigene – im Vergleich zu anderen Migrantengruppen wie den Vietnamesen – auffällige Unfähigkeit, die Chancen zu nutzen, welche das Aufnahmeland ihnen bietet, wird durch den Rassismus- und Diskriminierungs-Anwurf auf Deutschland projiziert.

Des weiteren soll die selbstverständliche Regel, daß Einwanderer mehr leisten müssen als Einheimische, um mit ihnen gleichzuziehen, außer Kraft gesetzt werden. Faktisch wird damit von Deutschland gefordert, daß es die eigene Entscheidung, hierher überzusiedeln, samt anhaltender Minderleistung dauerhaft subventioniert. So wenig originell das ist, so wirksam ist es doch. Denn die Kampagne stößt in die offene Flanke, die ihnen die von der Linken gepflegte nationale Selbstverachtung eröffnet hat.

Jan Fleischhauer meinte im Spiegel, daß die Kampagne ihre Stärke allein aus der „radikalen Subjektivität“ beziehe, die mit einer unwissenschaftlichen, weil „anekdotischen Evidenz“ hantiere, und kommt zu dem Schluß: „Die Debatte ist auf rührende Weise selbstbezogen und deshalb harmlos.“ Fleischhauer verkennt ihre politische Dimension. 

Sie bedeutet eine neue Eskalationsstufe in einem Opfer- und Minderheitendiskurs, der sich regelmäßig gegen die Mehrheitsgesellschaft richtet. Sie knüpft an den Anti-Rassismus-Diskurs in den USA an, der oft nichts anderes ist als ein gegen Weiße gerichteter Rassismus. Ein türkischstämmiger Kolumnist des Berliner Tagesspiegels, der das Soziologie- und Politologie-Geschwurbel perfekt beherrscht und monothematisch das Diskriminierungsfeld beackert, sieht in der offensiven Besetzung des „Rassismus“-Begriffs ein „Signal der Selbstermächtigung (...), weil ein Betroffener bestimmt, worüber geredet wird“.

Das läßt aufhorchen! Es kündigt sich die Formierung und Emanzipation einer neuen, ethnisch-religiös sich definierenden Klasse der Erniedrigten und Beleidigten an, die sich anschickt, die gesellschaftlichen Regeln umzuschreiben. Sie löst sich damit auch von ihren linken Betreuern, Vorkämpfern und Stichwortgebern, die sich bald in der Position des nützlichen Idioten wiederfinden könnten. Frei nach Erdogan: Das Rassismus-, Diskriminierungs- und Gerechtigkeitsgeschwätz „ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind“. Diese Möglichkeit ist um so ernster zu nehmen, nachdem die neueste Massenzuwanderung die demographische Verschiebung nochmals deutlich beschleunigt hat.

Der politisch-diskursive Überbau der Bundesrepublik ist so verrottet, daß er auf diese Impulse nicht mehr reagieren kann. Eine Grundsanierung ist unumgänglich. Denn wer sein Delirium unter exorbitanten Hitzegraden auslebt, riskiert den Sonnenstich.