© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Heimat und Naturrecht
Raus aus der Abstellkammer
Ingo Langner

Wer seit Beginn des Jahres die Ohren spitzt, um bundesdeutschen Konservativen bei ihrem Klagelied über die Zumutungen des Multikulturellen zu lauschen, dem wird auffallen, daß ihm als Alternative zu dieser postsozialistischen Ideologie immer öfter eine „Leitidee“ präsentiert wird, die, vom Heimatbegriff getragen, traditionelle deutsche Werte wie Fleiß, Disziplin und Ordnung wieder in den Stand zurückversetzen soll, in dem sie vor einer unterschiedlich gesetzten historischen Zäsur noch zum allgemein anerkannten Kanon der Deutschen gehört haben sollen.

Seit kein Geringerer als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede zum 3. Oktober 2017 mit dem Satz von der Heimat, die in die Zukunft weist, die bis dahin unter Faschismusverdacht im Toten Trakt isolierte freisprach, war ihre Rückkehr in die Leitartikel, Feuilletondiskurse und Talkshows gesichert. Sehr zum Verdruß ihrer links-grünen Peiniger, Miesmacher und Verächter. Doch Steinmeier wäre nicht Steinmeier, hätte er den nicht vorausgesehen. Darum hat er der freigelassenen Heimat sicherheitshalber eine ideologische Fußfessel verpaßt. Was sich dann bei ihm so anhört: „Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein Wir gegen Die; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat.“

Es ist schon bemerkenswert, wie gut der sozialdemokratische Bundespräsident seine Pappenheimer kennt. Wem es gelingt, in nur einem Satz sämtliche Anklagepunkte zu versammeln, die der von seiner NS-Fixierung nicht loskommende Internationalismus gegen die arme unschuldige Heimat immer und immer wieder ins Feld führt, der hat seine Lektion tatsächlich gelernt.

Wir wagen hier die These, daß nahezu 99 Prozent aller deutschen Heimatfreunde erstens nicht einmal im Traum daran denken, das Objekt ihrer Zuneigung gegen andere in Stellung bringen; zweitens mit Blut und Boden seit anno ’45 nichts mehr am Hut haben und drittens unter ihnen niemand die Schwurhand für eine Vergangenheit hebt, die „heil“ genannt werden könnte.

Der spanische Schriftsteller Cervantes läßt seinen Helden Don Quixote gegen Feinde anrennen, die bloß in seiner von Ritterromanen durchtränkten Phantasie existieren, in Wirklichkeit jedoch Windmühlen sind. In solches Klipp-Klapp imaginierter Feindbilder scheint auch unser Bundespräsident vernarrt zu sein. Oder weiß er es am Ende besser? Ist seine Liste des Bösen in Wirklichkeit ein rhetorischer Trick, der allein dem Ziel dient, die gute alte Heimat wieder gesellschaftsfähig zu machen? Dann wäre dieser Satz in seiner Rede: „Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Dingen Anerkennung –, diese Sehnsucht dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen“, der Versuch, zu definieren und vorzugeben, was „seine Deutschen“ hier und heute unter Heimat zu verstehen haben. Demzufolge wäre es also legitim, wenn wir uns innerhalb unserer Landesgrenzen nach Sicherheit, Entschleunigung, Zusammenhalt und „vor allen Dingen“ Anerkennung sehnen.

Mit dialektischen Taschenspielertricks bewirtschaften die Marxisten die Volksseele so lange, bis sie Knetmasse für ihre totalitäre Obsession geworden ist, neue Menschen zu schaffen. In der echten, der biblischen Genesis schuf Gott Himmel und Erde. 

Doch ist damit wirklich gemeint, was Menschen immer schon unter Heimat verstanden haben? Der im südosteuropäischen Banat geborene deutsche Schriftsteller Richard Wagner definiert Heimat anders. Sie „ist dort, wo man etwas zum ersten Mal erlebt hat, etwas, das sich so stark einprägt, daß alles andere, alles Spätere, einer Wiederholung gleichkommt. Das Gefühl aber, das man bei der Erinnerung an dieses erste Mal hat, nennt man Heimweh!“ Kurzum: Heimat ist eine Herzensangelegenheit.

Gerade damit tun sich jene, bei denen das Herz in erster Linie die Aufgabe hat, politisch links zu schlagen, immer schon schwer. Ein Beispiel dafür, wie verquer linkes Denken sein kann, lieferte Ernst Bloch. Der Marxist wollte die Heimat aus ihren volkstümlichen Verankerungen lösen und ging in seiner Umdeutung aufs große Ganze. Bloch nannte es „Das Prinzip Hoffnung“: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Ja, so machen es die Marxisten. Mit ihren dialektischen Taschenspielertricks bewirtschaften sie die Volksseele so lange, bis sie als Wachs in ihren Händen Knetmasse für ihre totalitäre Obsession geworden ist, neue Menschen zu schaffen.

In der echten, nämlich der biblischen Genesis schuf Gott Himmel und Erde mit allem, was darin kreucht, fleucht und wächst und zu guter Letzt den Menschen nach seinem Bilde. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Auch darum ist er frei. Er hat die Wahl, Gutes zu tun und Böses zu unterlassen. Das ist ihm ins Herz geschrieben, liegt mithin in seiner Natur.

Nicht nur das Alte Testament weiß davon. Seit der Antike ist das, was Naturrecht genannt wird, verankert. Die griechische Philosophie spricht von der Stimme der Vernunft und dem Gesetz der Natur des Menschen. Heraklit, Aristoteles und Platon waren davon überzeugt, jeder Mensch sei von Natur aus mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet.

Der Dominikanermönch, Theologe und Philosoph Thomas von Aquin definierte das Naturgesetz „als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses Gesetz hat uns Gott bei der Erschaffung geschenkt.“ Darum kann der mit dem Sein gegebene sittliche Anspruch kraft des Lichtes der Vernunft von ausnahmslos jedem Menschen erkannt werden.

In seiner Rede, die Papst Benedikt XVI. am 22. September 2011 vor dem Deutschen Bundestag hielt, legte er den Abgeordneten des „Hohen Hauses“ die dringend notwendige Rückkehr zu den Prinzipien des Naturrechts nahe.

Gleich zu Beginn erinnerte er sie daran, daß Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte: „Was wird sich der junge Herrscher in diesem wichtigen Augenblick erbitten? Erfolg – Reichtum – langes Leben – Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht. Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muß. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen.“

Im Gegensatz zum Naturrecht steht der Rechtspositivismus. Diese Rechtslehre geht davon aus, daß für die Entstehung, Durchsetzung und Wirksamkeit von Rechtsnormen als Voraussetzung allein deren positive Setzung genügt. Ursächlich dafür ist das positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. Den Takt dazu haben die materialistisch orientierten Naturwissenschaften geschlagen. Die lehnen nicht bloß alles als unwissenschaftlich ab, was sich nicht wiegen und messen läßt. Sie gehen sogar so weit, die Existenz der metaphysischen Sphäre jenseits davon zu leugnen. Aus dieser eingeschränkten, weil betriebsblinden Perspektive wird Ethos und Religion in die subjektivistische Abstellkammer verbannt. Dort stopfen Materialisten alles hinein, was sie „voraufgeklärt“ zu nennen belieben.

Nachdem die Liebe zur Heimat wieder in unserer Mitte Platz nehmen darf, sollte die Zeit reif sein für eine Renaissance des Naturrechts. Nicht, weil es ein Papst angemahnt hat, sondern weil nur auf naturrechtlichen Grundlagen die Gesellschaft gesunden kann. 

Genau davor warnte Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag eindringlich: „Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist. (...) Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit.“

Leider scheint die Rede des Papstes bei den Politikern unseres Landes auf unfruchtbaren Boden gefallen zu sein. Gerade auch bei den sogenannten konservativen unter ihnen. Wie anders ist es sonst zu erklären, daß wir aus diesen Kreisen letzthin immer nur Wortmeldungen hören, in denen die Rückkehr von „Werten“ als Heilmittel für unsere offenkundig nicht sonderlich gesunde Gesellschaft angepriesen wird. Besonders genau definiert werden die „Werte“ allerdings leider nie. Bestenfalls werden die eingangs erwähnten Tugenden Fleiß, Disziplin und Ordnung aufs Tapet gebracht. Dies ist deswegen unverständlich, weil der deutsche Papst in seiner Rede alle Voraussetzungen genannt hat, aus denen eine Gesundung möglich ist.

Jedem konservativen Politiker, dem wir die Lektüre dieser Rede dringend anraten, müßte daraus klarwerden, daß die leider nicht nur von Grün-Links propagierte „offene Gesellschaft“, bei deren Gralshütern das beigefügte Adjektiv demokratisch immer öfter zur Floskel verkommt, nichts anderes ist als die Wiedergeburt des „utopischen Denkens“, also eine ideologische Neuauflage all dessen, was 1990 mit dem Untergang des sowjetischen und osteuropäischen Sozialismus zum Glück auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet ist. Der Zisterziensermönch Maximilian Heim, Abt im österreichischen Kloster Heiligenkreuz, sagt es so: „Der alte Traum von einem konditionslosen Menschentum, der immer der Traum von einer vaterlosen Welt ist, wird im Kontinuum der Geschichte auch heute unter der Nomenklatur nachmetaphysischen Denkens und reiner, weil unaufgeklärt aufgeklärter Empirik weitergeträumt.“

Nachdem die Liebe zur Heimat wieder in unserer Mitte Platz nehmen darf, sollte die Zeit reif sein für eine Renaissance des Naturrechts. Nicht, weil es ein Papst angemahnt hat, sondern weil nur auf naturrechtlichen Grundlagen unsere Gesellschaft gesunden kann. Ein Anfang wäre gemacht, wenn sich fraktionsübergreifend Politiker fänden, die eine breite Debatte darüber initiieren, wie die Vernunft wieder ihre Größe finden kann, ohne dabei ins Irrationale abzudriften, und die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen kann. Wer macht den Anfang? Wer hebt als erster die Hand?






Ingo Langner, Jahrgang 1951, ist Filmemacher, Autor und Publizist. Seine ARD-Fernsehdokumentationen „Benedikt XVI. – eine deutsche Geschichte“ und „Das Antlitz Christi. Die Jesus-Trilogie von Joseph Ratzinger“ haben weit mehr als zwei Millionen Zuschauer gesehen. Auch in seinem jüngst publizierten ersten Kriminalroman steht mit Pius XII. ein Papst im Zentrum: „Der Fall Pacelli“ (Bernardus-Verlag). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über 1968, den Geist des Konzils und die Verheißung der sexuellen Revolution („Fleisch und Welt im Triumph“, JF 22/18).

Foto: Licht über Deutschland: Die aufgehende Sonne bescheint heimatliche Landschaft, das göttliche Licht der Vernunft will im Herzen des Menschen aufleuchten