© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Die bösen Taten wirken weiter
Verhaftung, Rechtsbeugung, Gefängnis, harter Neuanfang: Zwei SED-Opfer sprechen über ihre Geschichte / Nach 1990 wurde nicht alles gut
Hinrich Rohbohm

Sie hatte einfach nur noch weggewollt. Weg aus dem kommunistischen Ostblock, hinüber in den freien Westen, raus aus dem DDR-Unrechtsstaat. Erst allmählich wuchs bei Eva Aust der Wunsch, zu fliehen. „Das begann 1968, als ich meinen zweiten Mann kennenlernte“, erzählt die heute 77jährige. Zuvor, da habe sie ja noch „im Tal der Ahnungslosen“ gelebt. Eva Aust meint damit das Vogtland in Sachsen, wo sie aufgewachsen war: „Westfernsehen konnten wir dort nicht empfangen.“ Ihr späterer Mann bekommt die Westsender rein und erzählt ihr vom Leben in der Bundesrepublik. Von der gedanklichen und persönlichen Freiheit, der Marktwirtschaft, den beruflichen Möglichkeiten. „Mein Mann war Ingenieur und wollte beruflich weiterkommen. Aber das konnte man in der DDR nur mit SED-Parteibuch.“ Und so reift bei beiden der Gedanke, aus der DDR zu fliehen.

Über die zweite Frau ihres im Westen lebenden Vaters nimmt das Paar Kontakt zu einer Fluchthelferorganisation auf. „Wir wollten mit gefälschten Pässen über ein anderes Land in die Bundesrepublik“, erzählt Eva Aust. Doch das Vorhaben scheitert schon in der Vorbereitung. Die Stasi hatte Verdacht geschöpft, beide werden am 28. August 1974 am Flughafen Schönefeld festgenommen. Ein rabenschwarzer Tag.

Nach der Haft stand die Entlassene vor dem Nichts 

„Der Versuch der Republikflucht wurde genauso hart bestraft, wie wenn man bei der Tat erwischt wird“, erklärt Aust. Sie kommt zunächst in ein Untersuchungsgefängnis. Ein halbes Jahr später fällt ein Gericht die politisch motivierten Urteile: Drei Jahre Haft für sie, dreieinhalb für ihren Mann verhängt die DDR-Oberrichterin Gerda Klabuhn, Vorsitzende eines politischen Strafsenats des Stadtgerichts Ost-Berlin. Die „Eiserne Gerda“ wurde im vereinten Deutschland wegen Rechtsbeugung zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis verurteilt und mußte die Strafe auch antreten.

Im Juni 1975 wird Eva Aust in das berüchtigte Frauenzuchthaus von Hoheneck verlegt. Eine Haftanstalt im erzgebirgischen Stollberg, die als besonders schlimm gilt, in der die politischen Häftlinge mit Gewaltverbrecherinnen zusammengelegt wurden, sich sogar mit Mörderinnen die Zelle teilen mußten. Nicht wenige der Haftinsassen hatten auf dem nackten Boden zu schlafen. Eva Aust muße ihre drei Jahre voll absitzen. Sie wurde zur „Hoheneckerin“, wie die dort aus politischen Gründen eingesperrten Frauen genannt wurden.

„Die Stasi stellte mir in ihren Verhören immer wieder Fangfragen. Ich hatte dabei immer ganz natürlich gesagt, wie es war, was ich dachte. Aber allein damit hatte ich die DDR angegriffen.“ Am 25. August 1977 wird sie aus der Haft entlassen. „Gegen meinen Willen in die DDR“, sagt sie. Noch in der Haft hatte Eva Aust eine Übersiedlung in die Bundesrepublik sowie die Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft beantragt. Daraus wird nichts. Als sie an jenem Donnerstag aus dem Gefängnis tritt, steht sie vor dem Nichts. In ihren Beruf als Lehrerin für Deutsch und Kunsterziehung kann sie nicht mehr zurück. „Aufgrund meiner Flucht galt ich als nicht tragbar für den Schuldienst und hatte Berufsverbot.“ Gleichzeitig muß sie jedoch arbeiten. „Sonst kommen Sie wieder dorthin, wo sie hergekommen sind“, droht man ihr in Hoheneck. Wegen „asozialen Lebenswandels“, wie es damals heißt. „Paragraph 249“, nennt Eva Aust die Unrechtsgrundlage, die sie bis heute nicht vergessen hat. Auch der schulische und berufliche Weg ihres Sohnes war blockiert. Durch die politisch mißliebigen Eltern durfte er nicht die Oberschule besuchen, konnte nicht studieren. Fünf Jahre später darf die Familie gemeinsam endlich in die Bundesrepublik ausreisen.

„Die Zeit von 1982 bis 1989 war für mich die schönste Phase meines Lebens“, sagt sie der JF. „Weil ich da noch die alte Bundesrepublik genießen durfte.“ Dann aber kam die neue. Die sogenannte Wendezeit habe sie „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“ erlebt. Den Begriff „Wende“ hält sie für irreführend. „Das war der Zusammenbruch der DDR, da wurde nichts gewendet“, sagt sie. „Ich habe mich gefreut, daß so viele Menschen nun auch die Freiheit gewonnen hatten.“ Gleichzeitig sah sie jedoch schon damals „eine riesige Lawine an Problemen“ auf die alte Bundesrepublik zurollen. So habe sie mit ansehen müssen, „wie sich das Unrecht des einstigen SED-Staates teilweise wie Mehltau über das wiedervereinigte Deutschland legte und sein sozialistisches Gift schleichend in die Bundesrepublik hineingetragen wurde“. Bei aller Freude sei die Wiedervereinigung eben auch „Ursache für viele unselige Gesetzesregelungen gegenüber betroffenen DDR-Flüchtlingen“.

Eines davon ist das Fremdrentengesetz. Während Stasi-Funktionäre sich heute oft ansehnlicher Pensionen erfreuen, sind DDR-Flüchtlinge durch Änderungen im Fremdrentengesetz nach der Wiedervereinigung erheblich benachteiligt worden. „In meinem Rentenverlauf steht heute gar nicht mehr drin, daß ich politischer Häftling war.“ Die Folge: Eva Aust werden heute lediglich vier Monate auf die Rente angerechnet. „Beim alten Fremdrentengesetz waren es noch acht Jahre gewesen. Manche ehemalige DDR-Flüchtlinge bekommen dadurch bis zu 500 Euro weniger Rente im Monat“, erklärt Aust.

In den neunziger Jahren sollte Eva Aust noch eine weitere bittere Wahrheit erfahren. Bis jetzt hat sie darüber in der Öffentlichkeit geschwiegen. Im Gespräch mit der JF berichtet sie erstmals davon, daß ihre eigene Mutter der Stasi zugearbeitet hatte. „Sie war auf uns angesetzt worden, um mehr über die Fluchthelferorganisation herauszubekommen.“ Was Eva Aust ebenfalls erst später erfährt: Nach der Scheidung ihrer Mutter im Jahre 1949 war sie eigentlich ihrem im Westen lebenden Vater zugesprochen worden. Ihre Mutter hingegen erzählte ihr, der Vater würde sich für die Familie nicht interessieren. Eva Aust blieb somit in der DDR. Bis 1982.

Nach der Wiedervereinigung bleibt das Mißtrauen

Es sind Geschichten wie diese, die aufzeigen, wie ein totalitäres Regime Angst und Mißtrauen bis in die Familien hinein säen und sie zerbrechen lassen kann.

So auch bei Uwe Gerlach. Der gebürtige Erfurter hatte in der DDR den Wehrdienst verweigert. Über seinen Unmut über das kommunistische Regime machte er keinen Hehl. Als er in den siebziger und achtziger Jahren im Reparaturwerk „Clara Zetkin“ in Erfurt als Elektromaschinenbauer arbeitet, sammelt er Unterschriften gegen die schlechten hygienischen Zustände im Werk. Was ihn in das Visier der Stasi bringt.

„Die Stasi hat mich verfolgt, sogar in der Haft mit Psychopharmaka bearbeitet, weil ich ihr zu widerständig war“, erzählt der 62jährige. Seine Schwester habe dafür gesorgt, daß er auf die Freikaufsliste komme. „Das war meine Lebensversicherung. Sonst hätte es einen Unfall gegeben oder die hätten mich aufgehängt, die haben einen da einfach umgenietet, da krähte kein Hahn nach.“ Uwe Gerlach wählt oft drastische Worte. Die DDR-Zeit hat ihn mißtrauisch gemacht, oftmals zu mißtrauisch. Das Gefühl, verfolgt zu werden – so ganz ist er es auch im Westen nie losgeworden. Er spricht von Bekannten, die damals in der DDR über Nacht von der Stasi verhaftet worden waren. Von Leuten, die zwangssterilisiert wurden. Von Müttern, denen die Kinder weggenommen wurden.

Seine Frau, eine Krankenschwester in der Kiefer-und Gesichtschirurgie, heiratet er 1986. Drei Jahre später, am 2. August 1989, werden beide aus der DDR ausgebürgert und in die Bundesrepublik abgeschoben. In Bielefeld besorgen sie sich eine Wohnung. Sie arbeitet zunächst wieder als Krankenschwester. Er engagiert sich unter anderem im Bund der stalinistisch Verfolgten in Deutschland, übt das Amt des Bundesschatzmeisters aus.

Ende der neunziger Jahre eröffnen sie eine logopädische Praxis im westfälischen Bad Driburg. „Wir haben uns aneinander festgehalten“, sagt er. Knapp zehn Jahre später zerbricht jedoch die Ehe. „Sie hatte die Schlösser in der Praxis ausgetauscht, das Bankkonto sperren lassen. Ich stand auf einmal ohne Geld da. Da kriegt man Panik.“ Sie habe ihn für verrückt erklärt. Geschäftsführer der Logopädie-Praxis sei er nie gewesen, nur Aushilfskraft. „Ich habe die ganze kaufmännische und juristische Arbeit gemacht“, behauptet er dagegen. Gerlach zeigt der JF eine von seiner Frau unterschriebene Generalvollmacht, die beinhaltet, daß er tatsächlich für alle behördlichen und finanziellen Angelegenheiten der Praxis zuständig war.

Im Sommer 2013 läßt sie ihn in die Psychiatrie einliefern. „Als sie mich abholten, war ich betrunken, das hat sie ausgenutzt“, sagt er. Eines Nachts durchwühlt er die Mülleimer vor dem Haus seiner Frau, nimmt den Abfall mit, sucht darin nach Beweisen. Uwe Gerlach findet Papierschnipsel, setzt sie wie ein Puzzle akribisch wieder zusammen. „Aus den Notizen konnte ich erkennen, wie sie mit Ärzten, Psychologen, Jugendämtern oder der Polizei vorab redete, um mich zu diskreditieren“, ist er überzeugt und zeigt auf die mit Tesafilm wieder zusammengesetzten Papierfetzen.

Total verrückt? Es fällt einem schwer, Uwe Gerlach zu glauben. Zu drastisch klingen seine Schilderungen, zu unglaubwürdig seine beschriebenen Erlebnisse. Doch sie zeigen auch, wie ein totalitäres Regime selbst noch nach seiner Abschaffung jegliches Vertrauen in das Leben, in den Rechtsstaat und seine Institutionen zerstören kann.