© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Alawiten wittern Morgenluft
Syrien: Außer Assad ist keiner der im Konflikt involvierten Mächte an einer weiteren militärischen Eskalation gelegen
Marc Zoellner

Reger Betrieb herrscht am Grenzübergang von Qasr al Banat: Kolonnenweise überquerten hier in den vergangenen Tagen Dutzende Schwerlasttransporte des türkischen Militärs die Grenze zum syrischen Gouvernement Idlib, um rasch noch anzuliefern, was zur Begradigung der Frontlinie am dringendsten noch benötigt wird – frische Soldaten, Nahrung und Ausrüstung; Betonklötze zur Absperrung von Straßen; selbst komplett vorgezimmerte Wachhäuschen waren zu beobachten. Ankara bereitet sich schon jetzt auf den militärischen Ernstfall vor.

Friedensregelung ohne USA scheint Geschichte zu sein 

Siebeneinhalb Jahre nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs stellt Idlib die letzte verbliebene Bastion von Bedeutung für die Rebellen der Koalition gegen Syriens Präsidenten Baschar al-Assad dar. Im von den „Hai’at Tahrir asch-Scham“ (HTS), dem syrischen Ableger der Terrorgruppe al-Qaida, dominierten Idlib fanden seit der Eroberung ihrer Hochburgen im südlichen Teil des Landes durch die syrische Armee unzählige Milizen- und Splittergruppen ein Refugium. Moderate, westlich orientierte Kräfte sind hier ebenso vertreten wie bewaffnete Abordnungen ethnischer Minderheiten sowie radikalislamische Dschihadisten. Und seit gut einem Jahr ebenso das türkische Militär.

Aufgerüstet wird auch auf der anderen Seite der Frontlinie der „letzten großen Schlacht“, wie die internationale Presse  titelte: „Panzer werden nach Norden verlegt, und russische und syrische Regierungsvertreter lassen in den Medien die Kriegstrommel ertönen“, erklärte Aron Lund, Nahostexperte der New Yorker Denkfabrik „The Century Foundation“, kürzlich in einem Interview mit dem libanesischen The Daily Star. Die syrische Tageszeitung Al-Watan bestätigte Mitte August: Nach Idlib sei die größte militärische Verstärkung seit Kriegsausbruch vom März 2011 unterwegs.

Während ihrer trinationalen Gespräche im kasachischen Astana im vergangenen September hatten die drei kriegsbeteiligten Mächte Rußland, Iran und Türkei eigentlich auf eine Lösung gehofft: Neben Aleppo, Hama und Latakia sollte auch Idlib zur Schutzzone erklärt, Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und Rebellen von Kontrollposten der Konferenzteilnehmer unterbunden werden. Doch Astana, die erste Friedensrunde unter Ausschluß der USA, scheint Geschichte. Drei der vier Schutzzonen wurden mit Hilfe russischer und iranischer Militärs von den syrischen Streitkräften förmlich geschleift und überrannt. 

Einzig Idlib blieb übrig. Hier betreibt die Türkei zwölf Beobachtungsposten, auf der anderen Seite der Front Rußland und der Iran zusammen gut zwanzig Stück. Für die Türkei ist die Behauptung dieses Gouvernements  strategisch wichtig. Immerhin plant Ankara für Idlib die Rücksiedlung eines Großteils der in der Türkei gestrandeten dreieinhalb Millionen zumeist sunnitisch-arabischen Flüchtlinge.

An deren Rückkehr jedoch stört sich Assad, selbst Angehöriger der alawitischen Minderheit. Seine langfristigen Pläne sehen eine Konföderation der drei dominierenden Ethnien Syriens vor: der Kurden im Norden und Osten des Landes, der Sunniten in den Zentralprovinzen, der Alawiten wiederum im industriell und wirtschaftlich starken Küstenbereich sowie an der Grenze zum Libanon. Mit Millionen von Flüchtlingen, vor allem aus den Sunnitengebieten, hatte sich der ethnische Proporz seit Ausbruch des Krieges zugunsten Assads verschoben. 

Stellten arabisch-sunnitische Stämme im Jahr 2010 mit gut zwölfeinhalb Millionen Bürgern noch die sechzigprozentige Mehrheit unter den Syrern, betrug ihre Zahl den Schätzungen der Columbia- Universität zufolge im Sommer 2018 lediglich noch 8,8 Millionen, was nunmehr eine Minderheit von 48,9 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmacht. Vom kriegsbedingten Bevölkerungsschwund profitierten hingegen die Alawiten, die 2010 noch 11,8 Prozent, derzeit schon 17,2 Prozent der syrischen Bevölkerung stellen. „Wir regieren lieber ein Syrien mit zehn Millionen regierungstreuen Bürgern als eines mit dreißig Millionen Terroristen“, sprach sich kürzlich auch Jamil Hassan, Geheimdienstchef der syrischen Luftwaffe, für die Aufrechterhaltung des Status quo aus.

Türkei fürchtet weitere Flüchtlingswellen 

Mit den USA drängt die Türkei nun auf den letzten Versuch einer diplomatischen Lösung in der Idlib-Frage: Denn außer Syrien ist keiner der im Konflikt involvierten Parteien an einer militärischen Eskalation gelegen. Gerade mit Moskau ist Ankara derzeit regional eng verpartnert. Überdies sehen beide Länder, Rußland wie die Türkei, den wachsenden Einfluß des schiitischen Iran in Syrien aus jeweils strategischen Gründen kritisch. Ferner fürchtet die Türkei als selbsternannte Schutzmacht der Sunniten weitere Flüchtlingswellen. Rußland wiederum unterhält enge freundschaftliche Kontakte zur israelischen Regierung. Diese sieht sich mit der Stationierung Tausender iranischer Revolutionsgardisten an der Grenze zu den Golanhöhen ernsthaft in ihrer Sicherheit bedroht.