© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Wenn der Vater mit dem Sohne
Dem Jäger die Beute nehmen: Xavier Legrands Familiendrama „Nach dem Urteil“ um Besuchsrechte läuft diese Woche in den Kinos an
Sebastian Hennig

Einen gewöhnlichen Konflikt aus dem Alltag einer zerfallenden Mikrofamilie hat Xavier Legrand für sein Langfilmdebüt aufgegriffen und ungewöhnlich zugespitzt. Dabei ist die Zuordnung von Jäger und Beute in seinem Film freilich so eindeutig für den Zuschauer gar nicht nachzuvollziehen. Wenn der gewaltaffine Mann seiner Ex-Frau zweifellos nachstellt, so versichert diese sich der gemeinsamen Kinder als einer alleinigen Beute. Eigentlich sind damit alle gescheitert. Aber alle haben es darauf ankommen lassen. „Nach dem Urteil“ beginnt als Gerichtsdrama und endet als Krimi.

Nach der Trennung der Eltern Miriam (Léa Drucker) und Antoine (Denis Ménochet) wird das Sorgerecht für den Sohn Julien (Thomas Gioria) zur Trophäe der jeweiligen Interessen und Rechtfertigungen. Seine volljährige Schwester Joséphine (Mathilde Auneveux) steuert mit ihrer Liebesbeziehung um jeden Preis auf eine Ablösung von den eigenen Familientrümmern zu. Der Regisseur meint dazu: „Joséphine reproduziert ein Familienmuster und wird selbst eine junge Mutter genau wie ihre eigene seinerzeit. Man kann sich sogar vorstellen, daß ihre Großmutter dieses Phänomen bereits begonnen hat. Mehrere Generationen, die anscheinend der elterlichen Autorität entfliehen, indem sie selbst so früh wie möglich Mütter werden.“

Die wirkliche Ausgangslage erhellt sich nur wenig in der eingangs des Films sachlich nachgestellten familienrechtlichen Verhandlung über die vom Vater erstrebte Doppelresidenz des gemeinsamen Sohnes. Voller Widersprüche ist der Vortrag der Anwältinnen der beiden Mandanten vor der Richterin (Saadia Bentaie). Die stellt die rhetorische Frage, wer hier mehr lügt. Die Eltern gehen hinter den Juristinnen in Deckung.

Das Verhältnis zu einem Liebhaber gibt Miriam weder ihren Kindern noch der Richterin gegenüber zu. Jedes zweite Wochenende darf der Vater seinen Sohn vor dem Haus der Schwiegereltern abholen. Von der neuen Wohnung seiner ehmaligen Frau soll er nichts erfahren. Bei diesen Zuständen liegen Unrecht und Gewalt auf beiden Seiten. Stumpf und lieblos auf die eigene Befindlichkeit bezogen, agieren sie gegeneinander. Als der Sohn aus dem Haus tritt, erhebt sich der Vater nicht aus dem weißen Geländewagen, in dessen Sitz er sich nach Bedienung der Wechselsprechanlage wieder hat sinken lassen.

Die Eltern begegnen sich auf einem dunklen Parkplatz

Wie sich die Werkzeuge des alltäglichen Komforts zwischen die Beziehungen schieben, darin liegt das eigentliche Drama. Während die Mutter durch den Jungen fragen läßt, stiert der Vater im Vordergrund auf den Fernsehbildschirm. Die Unmöglichkeit einer zufälligen Begegnung spiegelt sich in den Möglichkeiten, durch Mobiltelefon und Automobilität immer zueinander finden zu können. Gerade die vermeintliche Mobilität führt zur Erstarrung. Die Großeltern bieten den einzigen Ankerplatz. Doch nachdem sich Antoine auch mit seinem Vater überworfen hat, muß er seine Sachen von der Straße aufsammeln.

Der moderne Mensch hat kein Zuhause mehr. Er ist im Auto daheim. Ohne sich der ganzen Konsequenz dieses Umstands bewußt zu sein, nutzt Regisseur Legrand das technologische Hamsterrad zur Darstellung einer ausweglosen Situation: „Ich suche nicht nach spektakulären Effekten, sondern verwende lieber die Wiederholung von Einstellungen an Orten, die mehrfach besucht werden, um ein Gefühl von Vertrautheit zu erzeugen und auch des Eingesperrtseins, um das Gefühl zu vermitteln, daß wir uns in eine furchtbare Spirale begeben.“

Antoine preßt die Wohnadresse aus dem Jungen heraus und sucht Miriam dort auf. Ein larmoyanter Koloß stürzt heulend in die blonde kalte Frau hinein. Die hält hinter seinem massigen Rücken starr die Arme ausgestreckt. Exemplarische weibliche Lieblosigkeit und männliche Stumpfheit zeugten immerhin zwei gesunde Kinder. Das hatte einstmals genügt, sich irgendwie zusammenzuraufen. Nun erfindet sich die Frau neu, wie es im Jargon der Selbstbestimmung heißt, während der Mann sein weiteres Leben nachtragend der seelischen Wundversorgung widmet. 

Die Darsteller der Kinder sind gut gewählt. Der Sohn trägt glaubhaft Züge der Mutter, während die Tochter ihrem Filmvater ähnelt. Am Rande einer Feier kommt dann Antoine seinem verheimlichten Rivalen ganz nahe. Joséphine lockt mit Gesang das Publikum in den Saal, damit sich Vater und Mutter unbemerkt auf dem dunklen Parkplatz begegnen können. Dem Zuschauer teilt sich diese Konspiration nicht verbal mit. Im unhörbaren Flüstern zwischen den Beteiligten inmitten des Feierlärms ist sie zu erahnen. Antoine besteht gegenüber Miriam darauf, sich verändert zu haben, und bekommt von ihr gesagt, er brauche Hilfe. „Du brauchst selbst Hilfe“, erwidert er. Erwachsene Menschen, denen es schon als Familie nicht gelungen ist, miteinander zurechtzukommen, können im Zustand der Trennung ihre Verhältnisse kaum einvernehmlicher regeln.