© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Von der Maas bis an die Memel
Vor 400 Jahren kommen Preußen und die rheinischen Provinzen Mark und Kleve zu Brandenburg
Jan von Flocken

Kurfürstin Anna von Brandenburg erlebte Trauer und Genugtuung zugleich. Am 27. August 1618 war ihr Vater Herzog Albrecht Friedrich von Preußen gestorben. Da er keine männlichen Nachkommen hinterließ, erbte Anna seinen gesamten Besitz, das 36.000 Quadratkilometer große Herzogtum Preußen. Ihr Gemahl Johann Sigismund, seit 1616 von einem Schlaganfall schwer gezeichnet und kaum noch in der Lage zu sprechen, nahm es lediglich zur Kenntnis. Vorbei waren die Zeiten, als das ungleiche Paar sich vor den Augen der bestürzten Dienerschaft lautstarke Auseinandersetzungen im Berliner Stadtschloß lieferte. Vorbei die gefürchteten kurfürstlichen Wutanfälle und der Gemahlin Würfe mit Tafelgeschirr und Gläsern. Altersmüdigkeit zog langsam ein.

Der letzte Hochmeister war der Hohenzoller Albrecht

Für das Kurfürstentum Brandenburg war der Erwerb von Preußen Ausgangspunkt seines Weges zur Großmacht. Dieses Territorium mit der Hauptstadt Königsberg gehörte ursprünglich zum Besitztum des Deutschen Ordens, dessen Ritter sich seit dem 13. Jahrhundert um die Kolonisierung der Ostgebiete und des Baltikums große Verdienste erworben hatten. Im Gefolge der Reformation wurde dieses 1466 zwischen Polen und dem Orden aufgeteilte Gebiet 1525 durch den Vertrag von Krakau zum weltlichen Herzogtum erklärt. Seine künftigen Lehensherren waren der römisch-deutsche Kaiser und der König von Polen.

Der letzte Hochmeister des preußischen Ordensstaates Albrecht von Brandenburg-Kulmbach war ein Hohenzoller aus der fränkischen Linie, die auch in Brandenburg regierte. Sein Sohn Albrecht Friedrich mußte 1577 wegen geistiger Umnachtung unter Kuratel gestellt werden. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: „Bald saß er still und in sich gekehrt, brach auch wohl ohne sichtbare Veranlassung in Tränen aus, bald wieder war er aufgelegt zu Lustbarkeit und Tanz; bald verweigerte er Speise und Trank zu sich zu nehmen, oder tat es doch nur, indem er deutlich seine Angst vergiftet zu werden zeigte, bald wieder aß und trank er unmäßig; bisweilen wurde er heftig und ausfahrend gegen Leute seiner Umgebung, die ihm widerwärtig oder verdächtig waren, goß ihnen Bier oder Wein ins Gesicht, zückte wohl gar bei Tisch das Messer gegen sie, ein anderes Mal war er freundlich, bat ihm sein Wesen zu verzeihen, flehte ihn selbst nicht umzubringen; häufig hörte man ihn unverständliche Worte in sich hineinmurmeln – und dergleichen mehr.“

Polens König Stephan Báthory ernannte am 22. September 1577 zu Marienburg den Brandenburger Markgrafen Georg Friedrich I. von Brandenburg-Ansbach zum Kurator des wohl schwer depressiven Herzogs sowie zum Administrator und Gubernator Preußens. Er sei Herr über das Land, dessen Stände, namentlich der lokale Adel, „ohne sein Wissen und Belieben nichts tun dürfen, sondern alles zu seinem Mittrachten und Gefallen stehen müsse“.

Als neuer Administrator fungierte seit 1603 Kurfürst Joachim Friedrich von Brandenburg, Vater von Johann Sigismund. Damit war der Weg von Preußen hin zu den märkischen Hohenzollern bereits vorgezeichnet. Lediglich Einwände der polnischen Krone als formeller Lehensherr hätten hier Schwierigkeiten bereiten können. Da Warschau sich aber gerade in einem schweren kriegerischen Konflikt mit König Gustav II. Adolf von Schweden befand, dessen Truppen im livländischen Norden der „Adelsrepublik“ (Rzeczpospolita) schon bis zum Fluß Düna vorgedrungen waren, mußte König Siegmund III. von Polen-Litauen zumindest an einer  wohlwollenden Neutralität des Brandenburger Nachbarn gelegen sein.

Der ostpreußische Adel zeigte wenig Begeisterung

Kurfürst Johann Sigismund erwies sich zu jener Zeit als weitgehend handlungsunfähig und gestand seiner nächsten Umgebung, er sei des Lebens satt und müde; wenn sein lieber Gott komme und wolle ihn holen, so wäre er bereit. Also übernahm seine Gemahlin Anna das Zepter in der preußischen Angelegenheit. „Die Räte folgten der herrischen Frau nur mit Widerstreben; aber sie setzte in der Hauptsache ihren Willen durch“, vermerkte ein Augenzeuge. Namentlich der ostpreußische Adel pochte auf seine Privilegien. „Er fügte sich nur ungern unter die brandenburgische Herrschaft, die trotz ihrer Nachgiebigkeit im Vergleich mit der polnischen Freiheit als eine Art von Despotismus erschien“, so der Historiker Otto Hintze in seinem großen Hohenzollern-Kompendium.

Anna hatte vor allem an politischem Gewicht gewonnen, weil es vier Jahre zuvor nach zähen Verhandlungen gelungen war, einen Großteil ihres mütterlichen Erbes in Westdeutschland (Kleve, Mark und Ravensberg mit den Städten Bielefeld, Duisburg, Wesel, Bochum, Soest und Xanten) dem Kurfürstentum Brandenburg einzuverleiben. Es handelte sich um ein wirtschaftlich hoch entwickeltes Territorium von 5.500 Quadratkilometern. Durch Annas verwandtschaftliche Beziehungen vergrößerte sich die Mark auf mehr als das Doppelte: Waren es 1598 noch 39.400, so wuchs das Gebiet bis 1619 auf 81.000 Quadratkilometer. „Damit hatte das Haus Brandenburg aufgehört, eine lediglich ostdeutsche Macht zu sein“, so Otto Hintze. „Seine Interessen reichten nun von der polnischen bis zur niederländischen Grenze; es war hineingezogen in die großen europäischen Kämpfe, bei denen im Westen Spanier, Niederländer und Franzosen, im Osten namentlich Schweden und Polen einander gegenüberstanden.“

In seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte“ resümierte Friedrich der Große 1751: „Die Geschichte des Hauses Brandenburg wird erst mit Johann Sigismund fesselnd, seit dieser Preußen erwarb, und ferner durch die klevesche Erbfolge, in welche er durch eine Heirat eintrat.“ Anna von Brandenburg-Preußen, der all dies zu verdanken war, starb 1625 im Alter von 49 Jahren in Berlin.

Foto: Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg 1610: Seine Frau Anna regelte den Erwerb