© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Knapp daneben
Die Normalzeit ist stigmatisiert
Karl Heinzen

Die Meinungsumfrage der Europäischen Kommission zur Sommerzeit ist beendet. 4,6 Millionen Bürger haben die Onlineplattform genutzt, um sich dazu zu äußern, ob ihnen die derzeitige Lösung behagt oder nicht. Manchmal waren die Server derart überlastet, daß Mitteilungsbedürftige nicht zum Zuge kamen. Sollte man beabsichtigen, auf diese Weise in Zukunft bindende Referenden abzuhalten, wäre es daher fair, die technischen Voraussetzungen zu verbessern oder wenigstens nur für jene einzuschränken, die in unerwünschter Weise abstimmen könnten. Da populistische Gruppierungen (FDP, AfD, Linke, Wagenknechtsekte) und Staaten (Polen, Ungarn) die Zeitumstellung ablehnen, ist zu vermuten, daß das Meinungsbild des europäischen Durchschnittswutbürgers ähnlich aussieht. Alle Agitatoren drücken dabei auf die Tränendrüse. Ganz furchtbar viele Menschen, so sagen sie, würden wegen der Zeitumstellung unter Schlafstörungen, Depressionen und Hautausschlag leiden. Manche wären tagelang desorientiert, weil es sie überfordere, die Uhren in ihrem Lebensumfeld zweimal im Jahr an die gültige Zeit anzupassen. Freundschaften und Jobs würden wegen verpaßter Termine gefährdet. 

Wenn die Winterzeit auch im Sommer gilt, muß niemand fürchten, daß die Tage kürzer werden.

Wie pervers die Diskussion geführt wird, erkennt man daran, daß die Gegner der Zeitumstellung nahezu unisono  die permanente Sommerzeit fordern, obwohl es sich bei ihr um einen willkürlichen Eingriff des Menschen in die natürliche Taktung des Tages handelt. Eine Rückkehr zur dauerhaften Geltung der Normalzeit wagt hingegen niemand zu fordern, da diese mit dem Stigma der „Winterzeit“ belegt ist. Hier gilt es, Populisten mit Argumenten entgegenzutreten. Wenn die Winterzeit auch im Sommer gilt, muß niemand befürchten, daß die Tage kürzer werden und die Dunkelheit zunimmt. Wenn wir allerdings zulassen, daß die Sommerzeit die Normalzeit auch im Winter verdrängt, könnte dies dazu führen, daß die Menschen auch in ihm höhere Temperaturen als normal akzeptieren. Sensibilität für die Problematik der Erderwärmung ist aber mehr gefragt denn je zuvor. Nach einem so heißen Sommer haben wir das Recht auf einen kalten Winter.