© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

„Die Stadt gehört uns“
Demonstrationen in Chemnitz: Nachdem ein junger Familienvater mutmaßlich von zwei Ausländern erstochen wurde, herrscht in der Stadt eine aufgeheizte Stimmung
Mathias Pellack

In Chemnitz stehen sich zwei Lager an der Brückenstraße unversöhnlich gegenüber. Die Position der Linken im Stadthallenpark ist schnell erklärt. „Halt! Die! Fresse!“, skandieren über tausend. Viele von ihnen schwarz gekleidet mit Kapuzenpulli und Halstuch. Etwa 200 sollen später laut Polizei, „vermummt und mit Stöcken bewaffnet“, Jagd auf abreisende politische Gegner gemacht haben. Die Organisatoren der Linkspartei bekunden, ihnen gehe es darum zu zeigen, daß Chemnitz eine „weltoffene Stadt“ sei. Viele sind dafür aus Leipzig, aus Gera oder Jena angereist. Sie eint der Abscheu gegen den „Nazimob“, wie sie die von der Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ veranstaltete „Demo gegen Ausländergewalt“ bezeichnen.

80 Meter Einzelfälle  in nur fünf Monaten

Bei „Pro Chemnitz“ stünden etwa 6.000 Teilnehmer aus Berlin, Brandenburg, Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen und eben Chemnitz, teilte die Polizei mit. „Das ist die größte Demo seit 1989“, sagt der Chemnitzer Stadtrat und Sprecher der Bürgerbewegung Martin Kohlmann. „Es ist Zeit für eine neue Wende. Wenn Großbritannien den Brexit aus der Europäischen Union machen kann, dann können wir auch den Säxit aus der Bundesrepublik vollziehen!“ Die aufgeheizte Stimmung würde das hergeben. Direkt unter der riesigen Karl-Marx-Statue stehen sie und rufen: „Die Stadt gehört uns!“ Polizisten trennen die beiden Blöcke. Von rechts werden sie aufgefordert, sich anzuschließen: „Ihr laßt euch vom Staat verheizen und verarschen. Der hat euch schon längst verraten.“

Teil der „Pro Chemnitz“-Demo sind aber auch Leute wie Horst F., der mit seiner Enkelin gekommen ist. Als Alteingesessener wünscht er sich: „Das Volk muß aufstehen, radikal. Aber die CDU ist an der Macht. Egal wen du wählst. Die machen sich alle gegenseitig die Taschen voll.“ Immer sei die Politik nur auf die Wirtschaft ausgerichtet, nie auf das Wohl der Bürger. Ein anderer findet: „Unter allen Menschen gibt es Gute und Schlechte.“ Er habe nichts gegen Ausländer. „Aber wie die Parteien mit uns umgehen, da fühle ich mich verarscht.“ Er nimmt dabei Bezug auf die Reaktionen der Stadtoberen, der Landesregierung und der Bundeskanzlerin. „Die kritisieren uns und machen nichts gegen die ausländischen Straftäter. Keine Rede war von Daniel H.“ Der junge Familienvater war am Sonntag beim Stadtfest getötet worden.

Vieles ist noch unklar. Zwei weitere Personen seien bei der Messerstecherei schwer verletzt worden. Auf der Demo kursierten Gerüchte, wonach einer gestorben sei. Die Polizei dementierte das. Fest steht, daß am Montag die Staatsanwaltschaft Chemnitz Haftbefehl gegen zwei Tatverdächtige – einen  22jährigen aus Syrien sowie einen 23jährigen aus dem Irak – erlassen hatte. Einer der beiden sei polizeibekannt wegen Körperverletzung und Drogendelikten.

Thematisiert werden auf der Kundgebung auch die Journalisten. Teilnehmer skandieren das fast schon obligatorische „Lügenpresse“. Einige Medienvertreter beklagen Angriffe auf sich. „Vor allem die Öffentlich-Rechtlichen halten Informationen über ausländische Straftäter zurück“, meint Robert V. Er hält sich wie F. in den hinteren Reihen der Demo auf. Der Raum vorne gehöre den Ultras und den Fußballfans. Der kräftige Mann hat Einzelfälle – Vergewaltigungen, Übergriffe und auch einige Morde – der jüngsten viereinhalb Monate ausgedruckt und auf ein Band gefädelt. „Über 80 Meter sind das. Alles Fälle, die nicht gemeldet wurden.“ Auf Nachfrage zeigt er zwanzig weitere Fälle. „Die habe ich zwar, aber will sie doch nicht aufhängen.“ Er fühle sich nicht sicher und deutet auf die Gegendemonstranten.

Insgesamt gab es laut Einsatzleitung während und nach der Demonstration zwanzig Verletzte. Flaschen und Böller wurden aus beiden Blöcken geworfen. In zehn Fällen ermittelt die Polizei wegen Zeigen des Hitlergrußes. Ein Sprecher räumte ein, die etwa 600 Beamten seien zu wenige gewesen. Beide Demos waren mit insgesamt 1.500 Personen angemeldet. 

Was alle zu einen scheint, ist das Unverständnis, wie jemand allen Ernstes auf der jeweils anderen Seite demonstrieren könne. „Ein Mensch ist gestorben. Deshalb haben wir uns hier versammelt“, sagt eine ältere Frau. „Welchen Grund haben die anderen?“