© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Im Weltinnenraum der Netzkommunikation herrscht der Höhlenmensch
Sachbuch: Ein Medienexperte empfiehlt nur Holzwege aus dem Archaischen digitaler Diskursanarchie
Dirk Glaser

In einer seiner scharfsinnigen Zeitanalysen, mit denen er in den 1990ern die Wissenschaftsbeilage der FAZ bereicherte, skizzierte der griechisch-deutsche Sozialphilosoph Panajotis Kondylis, was die Menschheit vom damals gerade hochfahrenden Internet zu gewärtigen habe. Keinesfalls, so prognostizierte der an Machiavelli und Carl Schmitt geschulte Gelehrte, werde es mit der nahenden Informationsflut einen Zuwachs an Rationalität geben. Denn die Quantität der Mitteilungen bedinge nicht automatisch gesteigerte Qualität.

Die Erwartung, durch wachsenden Informationsfluß werde das kognitiv-rationale Element in Gesellschaft und Politik sich im Sinne einer Aufklärung der Massen durchsetzen und „Rationalität des Handelns“ eliminiere die aus Informationsmangel resultierenden „archaischen“ Verhaltensweisen, dürfte also mit hoher Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Vielmehr fände sich in den digitalen Netzen demnächst dieselbe Welt aus Information und Manipulation wieder, der man mit ihrer Hilfe entkommen wolle (FAZ vom 5. Juli 1995).      

Ein Vierteljahrhundert später klagt der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen darüber, heute würden nur Minuten im Internet genügen, um die Welt als „Horrorvision“ zu erleben, die selbst den schwärzesten, die „Ver-hausschweinung des Menschen“ (Konrad Lorenz) anprangernden Kulturpessimismus noch überbiete. Denn nicht der Geist, das Gefühl triumphiere dort und versetze Milliarden von Netzkonsumenten permanent in „kollektive Erregung“. Mit dem Aufbruch ins digitale Zeitalter habe sich die Utopie einer vernunftgerechten Sozialordnung also nicht nur nicht erfüllt. Im Gegenteil scheine sich nun vielmehr das „archaische“ Stadium gesellschaftlicher Evolution in technologisch potenzierter Form bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag fortzusetzen.

Pörksens Phänomenologie des Archaischen, des von Denunzianten, Haßpredigern, Kriminellen jeder Couleur, Psychopathen, Lemuren, Trollen und Myriaden ähnlich strukturierter Höhlenmenschen bewohnten „Weltinnenraums der Netzkommunikation“ ist denn auch der halbwegs gelungenste Teil seiner Vivisektion jener durch das Internet stimulierten „großen Gereiztheit“. Hier schüttet der für sein didaktisches Talent 2008 als „Professor des Jahres“ ausgezeichnete Tübinger Wissenschaftler die Fülle seiner Lesefrüchte aus den Werken zumeist US-amerikanischer Medienkritiker aus. Mehr als eine fleißig kompilierte, positivistische Dokumentation unerfreulicher Realitäten ergibt diese Zitatencollage allerdings nicht.

Der Autor ist realitätsblind und befangen 

Unterm Strich resümiert Pörksen daher nur Bekanntes. Allem voran steht dabei der Befund, daß durch das Internet eine „tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur“ stattgefunden habe. Einhergehend mit einer „Deregulierung des Wahrheitsmarktes“, dem Zerfall des in den alten „Mediendemokratien“ garantierten „stabilen Realitätskonsensus“ einschließlich der „gemeinsamen basalen Werte“ westlicher Zivilisation. Aber über diese mit ermüdenden Beispielen illustrierte „Wahrheitskrise“, die tradierte „Ruhebänke fester Wahrheiten“ täglich vor aller Augen demoliere, und über schockierende Impressionen zur Atomisierung von Gesellschaften mit historisch gewachsenen Wertfundamenten gehen die Reflexionen nicht hinaus.

Nirgends stößt Pörksen zur echten Diagnose digitaler „Zeitkrankheiten“ vor. Stattdessen agiert bei ihm das Internet als seltsam anonyme, autonome Instanz, als ortloser Katalysator aggressiver Polarisierung, enthemmter „Diskurs-anarchie“ und institutioneller Destabilisierung. Er ignoriert mithin, was sich in jedem Klassiker neoliberaler Globalisierungskritik, von Robert Kurz bis Elmar Altvater, nachlesen läßt: das Wirken sozioökonomisch identifizierbarer Triebkräfte, der Protagonisten und Profiteure der rasant auf „Flugsandgesellschaften“ (Moshe Lewin) bolschewistischen Musters zulaufenden Zersetzungsprozesse.

Zu welcher Realitätsblindheit die von allen historischen, sozialen und ökonomischen Kontexten absehende Betrachtung des Internets als isoliertes Überbauphänomen führen muß, offenbart der unter „Schwarmdummheit“ und „Wirklichkeitsblasen“ seiner Mitbürger leidende Pörksen im Umgang mit einem Erschütterungsfaktor erster Ordnung, der Massenmigration. Ohne mit einem Sterbenswörtchen die Fülle der UN- und EU-Projekte zur Ableitung afrikanisch-orientalischer Überbevölkerungen Richtung Europa zu erwähnen, die mittlerweile sogar ihren Niederschlag im CDU-Wahlprogramm 2017 fanden, ohne markante Äußerungen einflußreicher One-World-Programmatiker zur Notwendigkeit, in einem „Sozialexperiment“ Europas homogene Völker multikulturell zu transformieren (Yascha Mounk), behauptet Pörksen, daß die These, unkontrollierte Zuwanderung ziele auf den Bevölkerungsaustausch der Deutschen und Westeuropäer, nur „Verwirrte am rechten Rand“ verfechten. Besser ist die Intensität eigener „ideologischer Selbstversiegelung“ nicht zu bekräftigen.

Wenn die Diagnose aufgrund solcher Befangenheiten schon gehörig schief geht, kann der ahnungslose Pörksen zur Therapie nur Placebos verabfolgen. Was reichlich in seiner „konkreten Utopie einer redaktionellen Gesellschaft“ geschieht. Das ist die etwas aufgepeppte Version von Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, die das real existierende „Horrornetz“ doch noch zum Werkzeug zur Formierung einer Gesellschaft „mündiger Bürger“  und „demokratischer Partizipation“ schmieden möchte, in der „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) endlich die soziale Interaktion bestimmt.

Eine Mehrheit hält an Multikulti-Lebenslügen fest

Um die pharisäerhafte Lächerlichkeit solcher „Netzreform“ zu erkennen, genügen zwei Hinweise. Zum einen setzt Pörksen für die Zukunft allgemein „Diskursorientierung“ voraus und fordert von „Dialogteilnehmern“ die Disziplin ein, stets die Gegenseite anzuhören. Nur so gewinne der Diskurs „Substanz durch Vielfalt der Positionen“. Migrationskritiker, „Klimaskeptiker“ und andere „Verschwörungstheoretiker“ bleiben aber nach Pörksens linksliberalen Spielregeln selbstredend draußen und dürfen nichts zur „Substanz durch Vielfalt“ beisteuern. Die jenseits des Internets entstandenen, von rechts thematisierten realen Ursachen der „Wahrheitskrise“ sind also weiter tabu. 

Zum andern will er einen „ideal gedachten Journalismus“ auf diese zugleich „Wahrheitsorientierung“ und „grundsätzliche Skepsis“ dekretierende Diskurs-ethik verpflichten. Wo dafür das Personal zu rekrutieren wäre, bleibt Pörksens Geheimnis. Das Gros der gegenwärtig aktiven „Medienschaffenden“ ist dafür jedenfalls nach einer Studie der Hamburg Media School gänzlich ungeeignet und wäre eigentlich reif für den „kleinen Austausch“.  Hat doch die schreibende Zunft 2015/16 zu 82 Prozent nicht nur jede Skepsis unterdrückt und alle Wahrheits- und Diskursorientierung preisgegeben, um in die „kollektive Erregung“ des sportpalastartigen Willkommensrausches einzutauchen, sondern sie hält auch, genau wie Pörksen, mehrheitlich weiter verbissen an ihren multikulturellen Lebenslügen über den Segen der Masseneinwanderung fest.  

Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, Carl Hanser Verlag, München 2018, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro