© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/18 / 31. August 2018

Sonderregeln für Muslime
Visionen über Europas föderative Neuordnung
Wolfgang Müller

Israel rechnet Michael Wolffsohn, genau wie Syrien, die Türkei, Iran, Irak, Rußland, China sowie das Gros der afrikanischen Nachfolger europäischer Kolonialreiche zu den „zerfallenden Staaten“, die grundsätzlich instabil wären und deren Zeit abgelaufen sei (Politische Studien, 479/2018).

Bei dem als liberal-konservativen, stets mit dem Zeitgeist harmonierenden deutsch-jüdischen Historiker, der bis 2012 Neuere Geschichte an der Hochschule der Bundeswehr in München lehrte, überrascht solche nicht von der Altersmilde eines Emeritus zeugende Radikalität. Aber Wolffsohn will sich von der Logik fortziehen lassen, die seiner Ausgangsthese zur Geschichte des 20. Jahrhunderts inhärent ist. Demnach habe sich die Idee der Selbstbestimmung seit 1918 zwar als „historische Urkraft“ erwiesen. Aber leider mit der verhängnisvollen Folge, daß die leidlich stabile internationale Ordnung vor dem Ersten Weltkrieg sich bis heute in eine globale „WeltUNordnung“ verwandelt habe, die gegenwärtig unaufhaltsam „zerbröselt“.

Prinzipiell tauge diese Idee kollektiver Selbstbestimmung sehr wohl dazu, um auf der Grundlage von Nationalität, Territorialität und staatlicher Identität vernünftige politische Ordnungen zu errichten. Aber schon die in den Pariser Vorortverträgen diktierte Verkleinerung des Deutschen Reiches sowie die Auflösung Österreich-Ungarns, Rußlands und des Osmanischen Reichs habe an die Stelle neue multinationale Gebilde in Mitteleuropa und auf dem Balkan gesetzt. Da die politische Führung nur jeweils einer, der demographisch stärksten Nation zufiel, fühlten sich Minderheiten weiterhin fremdbestimmt. „Die Herrschaft durch Fremde“ erzeuge bei den Beherrschten aber weder Vertrauen noch sei sie von ihnen gewollt. Der ohnehin überall zur sozialen Normalität gehörende ökonomische Verteilungskampf um knappe Güter werde in solchen Konstellationen noch verschärft. Konflikte, Kriege, Sezessionen prägen daher wieder die eurasische Geschichte seit 1989, während sie im Nahen Osten und im nachkolonialen Afrika seit 70 Jahren ein Dauerzustand seien.

Um diesen Gewaltspiralen und den dadurch befeuerten Zerfallsprozessen zu entkommen, rät Wolffsohn, sich vom Ordnungsprinzip Nationalstaat zu verabschieden. An die Stelle der territorialen sollte eine „nichtterritoriale Selbstbestimmung“ treten, die nach Schweizer Vorbild „Frieden durch Föderalismus“ stifte. Was auch bedeute, über gruppen- und nicht raumbezogene „Sonderregeln für die muslimischen Minderheiten“ Westeuropas nachzudenken.