© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Bürgerkrieg im Vatikan
Mißbrauchsskandal in der katholischen Kirche: Rücktrittsforderung an Papst Franziskus wegen homosexueller Netzwerke
Marco F. Gallina

Shame on you“ hallt es durch das Kirchenschiff während der Predigt. Demonstrativ steht einer der Gläubigen auf und verläßt die Messe. Der Adressat: Kardinal Donald Wuerl, Erzbischof von Washington. Anderer Schlauplatz: die Cardinal Wuerl North Catholic High School. Dort haben Unbekannte das Eingangsschild mit roter Farbe übersprayt und den Namen „Cardinal Wuerl“ getilgt.

Bilder wie diese sind nur Ausschnitte. Sie porträtieren die aufgeheizte Stimmung in den USA seit dem Ausbruch des neuen Mißbrauchsskandals, der immer weiter um sich greift. Kardinal Donald Wuerl gehört zu den meistgehaßten Männern des Landes. Grund dafür ist der Report der Grand Jury aus Pennsylvania. Das über tausend Seiten dicke Papier listet 301 Priester auf, die sich an über 1.000 Opfern vergingen. Über zweihundertmal nennt der Bericht Wuerl, der im fraglichen Zeitraum Bischof von Pittsburgh (1988 bis 2006) war, und offensichtlich nur wenig gegen seine übergriffigen Priester unternahm. Wuerl behauptet dagegen besonders hart gegen die Mißbrauchsfälle im Bistum vorgegangen zu sein und startete eine Webseite „The Wuerl Record“. Was als Apologie gedacht war, endete in einem medialen Fiasko.

Männliche Teenager sind die Hauptopfergruppe

Es ist diese Arroganz, die das katholische Kirchenvolk derzeit auf die Barrikaden treibt: gegen Priester, Bischöfe, Kardinäle – und sogar Papst Franziskus. Letzterer hatte bereits mit einem Schreiben vom 20. August die Gemüter der Katholiken erregt. Darin verurteilte der Papst zwar das Geschehene, nannte aber weder Namen noch konkrete Pläne, wie die Krise zu überwinden sei. In seiner Allgemeingültigkeit – „wir haben alle schuld“ – erzürnte er sogar einige katholische Laien, die Taten statt schöner Worte erwartet hatten.

Die eigentliche Bombe platzte dann am 25. August. Erzbischof Carlo Maria Viganò (77), langjähriger Nuntius der Kurie in den USA und unter Benedikt XVI. einstmals einer der mächtigsten Männer im Vatikan, veröffentlichte eine Stellungnahme, in der er eine ganze Liste von hochrangigen Prälaten benannte, die von den sexuellen Übergriffen Kardinal Theodore McCarricks wußten – lange bevor letzterer im Zuge der neuesten Enthüllungen seinen Kardinalshut verlor.

Viganòs Belastungen betreffen zwei Punkte: erstens, daß im Vatikan eine Vertuschungslobby existiert, die ihre Vergehen mit einer mafiaähnlichen Omertà verschweigt und sich gegenseitig deckt; und zweitens, daß Viganò den neugewählten Papst im Juni 2013 bereits über die Vergehen McCarricks in Kenntnis setzte, dieser aber offensichtlich nichts unternahm. Viganò geht noch einen Schritt weiter und behauptet, daß Benedikt XVI. Auflagen gegen McCarrick verhängt hätte, die Franziskus nachweislich rückgängig machte. Höhepunkt des Schreibens: die Rücktrittsforderung an Papst Franziskus.

Die Beschuldigungen des einstigen Chefdiplomaten des Vatikans treffen dabei einen Punkt, der von der Kirche wie von den meisten Medien zielsicher im Mißbrauchsskandal umschifft wird. Die Hauptopfergruppe der übergriffigen Priester  sind – je nach Studie – mit 60 bis über 75 Prozent männliche Teenager. Viganò spricht in seinem Papier die katastrophalen Zustände in den Priesterseminaren an, wo Seminaristen von ihren homosexuellen Vorgesetzten erpreßt und mißbraucht werden.

Die Zustände sind nicht neu: Bereits der letzte Mißbrauchsskandal während der Jahrtausendwende förderte eine große Dichte von Homosexuellen in katholischen Priesterseminaren zutage. Der Boston Globe schätzte damals, daß 80 Prozent aller Fälle von sexuellem Mißbrauch in Seminaren stattfände. Die Kirche habe demnach nicht so sehr ein Problem mit Pädophilie als mit Ephebophilie. McCarrick, der regelmäßig Seminaristen in sein Strandhaus lud und selbst während der Polizeiermittlungen Zugriff auf junge Männer hatte, ist dabei wohl nur die Spitze des Eisberges.

Es ist diese unangenehme Wende, die den größten Sprengstoff für Rom birgt. Die Homo-Lobby im Vatikan galt lange als Verschwörungstheorie, bis Franziskus deren Existenz bestätigte. Daß Franziskus aber mit dieser offensichtlich kooperierte und möglicherweise weiterhin kooperiert, ist nicht nur hinsichtlich der katholischen Sexualmoral eine gefährliche Angelegenheit. Denn Franziskus hatte gleich mehrere Gründe, mit McCarrick so nachsichtig zu agieren. Neben einer persönlichen Freundschaft, die den Ex-Erzbischof von Washington mit dem ehemaligen Erzbischof von Buenos Aires verbindet, kommen vermutlich auch monetäre Gründe hinzu. McCarrick galt als sehr erfolgreicher Spendensammler. 1988 war er Mitbegründer der millionenschweren Papal Foundation. 215 Millionen Dollar hat diese seit ihrem Bestehen angehäuft und erst kürzlich 13 Millionen Dollar Unterstützung an Franziskus zugesagt.

Zudem war McCarrick mit der Prominenz aus Wirtschaft, Politik und Medien bestens vernetzt. Kein Wunder, daß der Papst McCarrick ab 2013 zu einem seiner engsten Berater machte, wenn es um die Neubesetzung von Bistümern in den USA ging – statt ihn wegen seiner Verfehlungen kaltzustellen. Das passierte erst, als es nicht mehr weiterging. Blanker Zufall, daß unter McCarrick vor allem liberale Prälaten eine Karriere machten – insbesondere wenn es um die Sexualmoral der Kirche ging?

Kirchliche Medien und die liberale Presse befinden sich seit dem „Viganò-Brief“ in einer bemerkenswerten Allianz. Sie halten das Papier für unglaubwürdig, sprechen von einem Machtkampf in der Kirche, von Attacken gegen den Heiligen Vater. Wie im politischen Betrieb wird derjenige, der auf den Schmutz hinweist, als schlimmer angesehen als derjenige, der den Schmutz macht. Dabei könnte die Situation schnell bereinigt werden: indem die Beschuldigten – inklusive Franziskus – auf die Vorwürfe antworteten.

Der Papst wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern

Doch die Arroganz der kirchlichen Eliten setzt sich fort. Keiner der von Viganò beschuldigten Prälaten zeigte sich gegenüber der New York Times zu einem Gespräch bereit. Der Papst, angesprochen auf dem Rückflug vom Weltfamilientag, wollte sich mit keinem Wort zu Viganò äußern. Der Erzbischof von Chicago, Kardinal Blase Cupich, ließ sich sogar zu der Äußerung hinreißen: „Der Papst hat eine größere Agenda, er beschäftigt sich mit Umweltschutz, dem Schutz von Migranten und Kirchenarbeit. Wir haben keine Zeit dafür, in dieses Kaninchenloch hinabzusteigen.“

Cupich erntete nach diesem Kommentar so viel Häme, daß er alle Priester Chicagos dazu anwies, seine Worte in der sonntäglichen Messe neuerlich zu erklären. Cupich wurde – ebenso wie die Bischöfe von Newark und Chicago – nach Viganòs Darstellung von McCarrick als Vertreter der liberalen Homo-Lobby installiert. Auch er wird von Viganò schwer belastet.

Franziskus’ Nimbus als Reformer ist dahin

Die franziskusfreundlichen Medien hatten gehofft, Viganò als Person diskreditieren und seinen Brief nur als Sturm im Wasserglas abkanzeln zu können. Sie hatten jedoch nicht damit gerechnet, daß diverse Bischöfe mit Viganò fraternisierten und ebenfalls Aufklärung forderten. In einem Interview bestätigte Bischof Stephen Lopes: „Wir haben alle davon gewußt.“ Der Chef der US-amerikanischen Bischofskonferenz, Kardinal Daniel DiNardo, forderte „schlüssige und auf Beweisen basierende“ Antworten von der Kurie. Das „Catholic Women’s Forum“ sammelte inzwischen mehr als 30.000 Unterschriften, welche den Papst zur Stellungnahme aufforderten.

Die Krise spitzt sich zu einem katholischen „Bürgerkrieg“ zu, wie der katholische Journalist Matthew Schmitz vor einer Woche in der New York Times prognostizierte. Er geht hauptsächlich von einer bornierten Kirchenelite aus, die das Problem unter dem Schlagwort „Klerikalismus“ abschmettern will, ohne sich mit dem Filz in den eigenen Reihen beschäftigen zu wollen. Auch hier sind die Parallelen zu derzeitigen Verfallserscheinungen der westlichen Demokratien offensichtlich.

Im Zentrum dieser Krise steht nunmehr der Papst selbst. Der Nimbus des großen Reformers, gar Revolutionärs ist dahin. Offensichtlicher denn je ist geworden, daß dieses Pontifikat die Kurie nicht gereinigt hat, sondern mit den alten Eliten kooperiert und dort, wo nötig, die letzten Widerständler entfernt. Bereits jetzt macht die Meldung die Runde, daß Franziskus Kardinal Gerhard Müllers Position als Chef der Glaubenskongregation deswegen nicht verlängerte, weil er auf die Mißbrauchsfälle hinweist. Wie glaubhaft das ist, ist noch ungewiß.

Doch die jetzigen Vorwürfe sind kein Präzedenzfall. Benedikt XVI. entband den Priester Mauro Inzoli 2012 seiner Aufgabe wegen sexuellen Mißbrauchs; Franziskus holte ihn 2014 zurück. Im Januar 2013, nur wenige Tage vor Benedikts Rücktritt, ächtete dieser Kardinal Roger Mahony wegen Vertuschung sexuellen Mißbrauchs; Anfang 2018 rehabilitierte Franziskus ihn. Die Machenschaften von Kardinal Rodriguez Maradiaga, der als rechte Hand von Franziskus die Geschicke der Kurie entscheidend lenkt, kommen ebenfalls immer offener zutage. Der Erzbischof von Tegucigalpa will nichts von den Übergriffen seines Weihbischofs Juan Pineda wissen, der sich ähnlich McCarrick in Priesterseminaren an seinen Seminaristen verging – obwohl dem Vatikan ein Dossier im Jahr 2017 über diesen Fall vorlag. Maradiaga steht bereits wegen eines Finanzskandals unter Druck.

Dazu kommt eine weitere Affäre um den priesterlichen Geliebten des homosexuellen Kardinals Francesco Coccopalmiero, für den Franziskus ein vatikanisches Appartement zur Verfügung stellte. Coccopalmiero geriet 2017 in die Schlagzeilen wegen einer homosexuellen Drogenorgie und gilt als eines der Aushängeschilder der Homo-Lobby. Das Dach seiner Kardinalkirche, San Giovanni die Falegnami, stürzte letzte Woche ein. Man muß nicht katholisch sein, um darin ein Omen zu sehen.

Das Schreiben von Carlo Maria Viganò hat die katholische „Tagespost “auf deutsch übersetzt und dokumentiert:  www.die-tagespost.de