© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Die Bundeswehr hat ein Führungsproblem
Das „Jahrbuch Innere Führung 2017“ offenbart, daß in der Truppe der Kompaß abhanden gekommen ist
Peter Seidel

Wenn Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen der Meinung ist, die Innere Führung habe „versagt“, und wenn ein Oberstleutnant der Bundeswehr zu dem Ergebnis kommt, sie könne „ersatzlos entfallen“, dann stimmt etwas nicht in den deutschen Streitkräften. Allerdings sind die Motive für das jeweilige Verdikt so unterschiedlich wie die Personen: bei Frau von der Leyen ist es die Auffassung, sie hätte innenpolitisch nicht das Erwünschte gebracht, bei dem Soldaten Lünenborg die Feststellung, gerade im internationalen Vergleich lasse der „soldatische Geist“ der Truppe sehr zu wünschen übrig. Beide werden im „Jahrbuch Innere Führung 2017“ zitiert, das alljährlich Aufschluß über den Geist des bis vor kurzem noch selbständigen „Zentrums Innere Führung“ (ZIF) gibt.

Diese Kontroverse in der Einleitung offenbart Probleme der Bundeswehr, die weit über die bekannten Ausrüstungs-, Personal- und Finanzmängel der Truppe hinausreichen. Soll doch Innere Führung eigenem Anspruch nach den Kern der Bundeswehr ausmachen: nicht zuletzt Geist und Moral, also die Haltung des Soldaten. Doch was ist Innere Führung? So ganz genau wissen es die Mitarbeiter des ZIF wohl auch nicht, nur daß sie Vorbild für eine EU-Armee sein soll. Eingeführt wurde sie im Zuge von Wiederbewaffnung und Bundeswehraufbau als Reaktion auf die Menschenführung in der Wehrmacht im Nationalsozialismus. Angesichts der erforderlichen Übernahme von Offizieren und Unteroffizieren in die Bundeswehr ein damals notwendiger Schritt zum „Staatsbürger in Uniform“. Und heute? 

Aufschluß verspricht das neue Jahrbuch, da nur einer von 18 Autoren seinem Aufsatz die Erläuterung voranstellt, hier handele es sich um seine persönliche Meinung. Bei den anderen Autoren kann man somit davon ausgehen, daß sie die Vorstellungen des politischen Berlin widerspiegeln, ein offiziöses Werk also. Umso erschreckender ist die Dürftigkeit der meisten Beiträge. Zwei Schlagworte vor allem sind es, die die Themen des Bandes bestimmen: einmal das neue Modewort „Resilienz“, mit dem vor allem die Verwundbarkeit moderner, postheroischer Gesellschaften thematisiert wird, und vor allem natürlich, „Europa“. Dies zeigt sich bereits in den Überschriften, Deutschland kommt dort nicht mehr vor. Somit beschäftigt sich der ganze erste Teil mit der „Wiederkehr der Verteidigung in Europa“, bevor es dann im zweiten Teil um die „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ geht. Zukunftsweisend aber ist vor allem der dritte und letzte Teil, der den bezeichnenden Titel „Zur Diskussion gestellt“ trägt. 

Die Lektüre der Beiträge verstärkt von Aufsatz zu Aufsatz mehr die Frage, ob hier wirklich für die Soldaten der Bundeswehr geschrieben wurde. Und in der Tat tummeln sich neben einigen Truppenoffizieren nicht zuletzt Philosophen, Soziologen, und eine Theologin ist auch dabei. Und das kommt dabei heraus: Eine Dame kritisiert eine „Fixierung auf die Idee des Kampfes“ und spricht von „sogenannten Kampftruppen“. Eine andere verweist auf die „wichtige Rolle von Querulanten“ und fordert die Bundeswehr auf, den „Querulantismus zu fördern“. 

Eine andere philosophiert über „toxic leadership“, unter der die Bundeswehr leide. Andere beklagen eine fehlende europäische Medienlandschaft, und daß auch deshalb „eine Europa-Armee möglicherweise noch in sehr weiter Ferne liegt“. Nichts vom Soldateneid, von Pflicht und Gehorsam, von Auftragstaktik, absolut nichts von den vielen bewährten Tugenden preußisch-deutscher Armeen, einst das bewunderte internationale Vorbild!

Ganz anders das letzte Kapitel! Erst hier wird deutlich, wie sehr die Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten heruntergewirtschaftet wurde. Die Beiträge von Martin Sebaldt, Gerhard Brugmann und Gustav Lünenborg sind die Belohnung fürs tapfere Weiterlesen. Während der erste sich wie in seinem jüngsten Buch „Nicht abwehrbereit“ umfassend, wenn auch in gekürzter Form, mit dem Gesamtzustand der Bundeswehr befaßt, widmen sich die beiden letzteren explizit der Inneren Führung. Und da geht es deutlich zur Sache: Die Innere Führung sei „verschlissen“, stehe „für eine unsoldatische Armee“, eine „Spielzeugarmee“, eine „eingehegte, verweichlichte Armee“,„verfehle ihren Zweck“, die Innere Führung finde in „unserer Armee keinen Anklang“. Erforderlich für eine Armee im Einsatz sei vielmehr „ein besonderer soldatischer Geist“. Starke Worte, gewiß, aber sind sie unberechtigt? Hier stecken wirklich zwei unterschiedliche, diametral entgegengesetzte Welten zwischen den Buchdeckeln.

Es ist nicht mehr opportun, Roß und Reiter zu nennen 

Nun, ganz wohl ist den Herausgebern dabei nicht. Vorsichtig meinen sie zunächst, daß die zuletzt genannten Stimmen in das nächste Jahrbuch Innere Führung „aufgenommen werden könnten“. Deren Kritik sei allerdings „sehr bedenkenswert“ und sollte auch „intensiv diskutiert werden“. Doch dann werden sie deutlicher: Die Bundeswehr „habe ein Führungsproblem“, es sei „nicht opportun, Roß und Reiter zu nennen“ oder „Alternativmodelle zu entwickeln“. Beachtliche, mutige Worte für ein offiziöses Werk! Offen bleibt, was zu tun wäre.

Das ZIF wurde inzwischen jedenfalls disziplinarisch der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg (FüAk)  unterstellt. Sicherlich ein wichtiger und richtiger Schritt, wenn die Innere Führung überhaupt noch etwas bedeuten soll. Nur als integraler Bestandteil einer militärischen Führungslehre kann die Innere Führung heute überhaupt noch einen Sinn haben. Eine Führungsakademie dürfte dafür der richtige Ort sein. Sofern man dort die Zeichen der Zeit richtig versteht und wirklichen Reformeifer aufbringt wie einst die preußischen Reformer zur Zeit Napoleons. Immerhin hat man sich einst bei der Einführung der Inneren Führung auf sie berufen. Und sicher gehört zu einem Neuanfang auch neues Personal. Viele aus der alten ZIF sollten den Hut nehmen, irgendein Elfenbeinturm dürfte sich sicher für die Masse der dort tätigen Philosophen,Theologen und Soziologen finden lassen. Problematischer und viel schwerer auszutauschen sind jedoch jene politischen Akteure, die angesichts der multipolaren Realpolitik gedanklich im Wolkenkuckucksheim verharren. 

Wenn Brugmann betont, die Bundeswehr sei „nicht fähig, sich auf eine Prioritätenfolge der ihr wichtigen Werte festzulegen“, so lassen wir einmal dahingestellt, ob es hier wirklich um „Werte“ oder nicht eher um Schwerpunktbildung der politischen Führung geht: Entscheidungsunfähigkeit gibt es in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ohne Zweifel. Man ist sich selbst nicht einig darüber, inwiefern man wirklich wieder von der Interventionsarmee zur Landesverteidigung zurückgehen soll, nur europäisch soll es halt sein. Aber ob dies in jedem Fall sinnvoll ist, beispielsweise bis hinunter zur Bataillonsebene, ist mehr als fraglich. Und wohin soll das Ganze führen? Zum Afrikakorps zur Unterstützung der Franzosen, wie die Verteidigungsministerin jüngst meinte, zur Fremdenlegion für Söldner aus aller Welt, zu einer  nachfolgenden Besatzungs- und Befriedungsarmee, oder gleich zu einer Miliz, wie selbst Sebaldt und Brugmann allen Ernstes vorschlagen? 

So wie es aussieht, wird wohl noch viel Wasser die Spree herunterfließen, bis es darüber zu wirklich strategisch durchdachten Entscheidungen kommt. Unter der jetzigen Großen Koalition ist dies nicht mehr zu erwarten. Und so wird es wohl noch eine Weile bei den schönen Worten bleiben: zur Bundeswehr und zu ihrer Inneren Führung.

Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hrsg.): Jahrbuch Innere Führung 2017. Die Wiederkehr der Verteidigung in Europa und die Zukunft der Bundeswehr. Miles Verlag, Berlin 2017, gebunden, 320 Seiten, 24,80 Euro