© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Das Gift der Lüge
Der Umgang von Regierung und Staatsmedien mit Chemnitz: Die Kommunikation löst sich auf
Matthias Matussek

Es gibt paradoxerweise keine präzisere Definition für die gegenwärtige öffentliche Auseinandersetzung als Peter Sloterdijks nebelhafte Wortschöpfung vom „Lügenäther“ – ein schleichendes, kaum merkbares Gift, das wir einatmen, einzuatmen gezwungen sind, sobald sich die Bundesregierung in Sachen Islam oder Flüchtlingskrise über die Staatsmedien der öffentlich-rechtlichen Anstalten äußert. Denn alle ihre Äußerungen haben einen Dreh, einen doppelten Boden, und sie enthalten das, was man als Zwecklügen bezeichnen kann.

Der jüngste Fall betrifft die Chemnitzer Demonstrationen nach dem Mord an Daniel H., in welchen Regierungssprecher Steffen Seibert von „Zusammenrottungen“ (ein Straftatbestand aus DDR-Zeiten) und von „Hetzjagden auf Menschen“ sprach, ein Vorwurf, der von der Kanzlerin persönlich wiederholt wurde, obwohl bald klar war, daß dieser dann doch eine faustdicke Entstellung der Ereignisse war, um nicht zu sagen: eine Lüge. Es hat sie einfach nicht gegeben. Es kam zu Rempeleien, besonders als linke Gegendemonstranten aufzogen, aber zu „Hetzjagden auf Menschen“ ganz schlicht und einfach nicht, was sowohl die Chemnitzer Freie Presse wie Polizei und Staatsanwaltschaft bestätigten. Selbst der oberste Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen konnte Jagden nicht bestätigen. Was ihn nun in schwere politische Bedrängnis gebracht hat.

Die Lüge zersetzt jede Kommunikation, das wußte schon Kant. Der Lügner nimmt weder sich noch den anderen ernst. Die wohl größte Lüge derzeit ist diejenige, die aus zivilen Protesten gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung, zumal nach einem weiteren mörderischen „Einzelfall“, einen rechtsextremen Mob macht.

Mit einer schon verschreckenden Kaltschnäuzigkeit wiegelt die Regierung, gemeinsam mit einer denkfaulen und moralisch empörungsbereiten Presse, das Wahlvolk auf, um es gegen Kritiker zu mobilisieren.

Es ist eine Politik kalkulierter elitärer Grausamkeit, die ihre Bataillone mit einem unwiderstehlichen Angebot auf die Straßen jagt: dem des reinen Gewissens im Haß auf Dissidenten, also dem der Selbstgerechtigkeit.

Auch die Sprache übrigens leidet. Man habe, so die Kanzlerin, Demonstrationen erlebt „mit Erscheinungen, die nicht in Ordnung sind“. Sie meinte auf einem Amateurvideo „sehr klar Haß“ gesehen zu haben, „und damit auch die Verfolgung unschuldiger Menschen“. Und schließlich: „Es ist eine angespannte Stimmung, in der auch jeder, glaube ich, und jede Position beziehen sollte.“

Nun sind solche Verklausulierungen und gezielten Ungenauigkeiten, kurz: das vernebelnde Gestotter, eine direkte Konsequenz des Lügen­äthers, der seit den Anfangstagen der Flüchtlingsinvasion in den öffentlichen Raum geströmt ist. Etwa so: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, daß wir Recht und Gesetz einhalten wollen und werden, und daß wir das, wo immer das notwendig ist, auch tun“ (Merkel am 20. Juli 2018 bei einer Pressekonferenz).

Es begann mit Behauptungen wie „Die Grenzen lassen sich nicht sichern“ oder „Wir schaffen das“ oder den berüchtigten „Einzelfällen“, die „nichts mit dem Islam zu tun“ haben und bei denen das Verschweigen der meist muslimischen Täter, oder gar der Tat selbst, zum Spiel gehörte. Und immer werden die „Anständigen“ aufgefordert, nicht Wasser auf die Mühlen der „Rassisten“ zu leiten und die Demokratie „gegen Rechts“ zu verteidigen. Denn Warnungen vor dem Islam gelten merkwürdigerweise als rechts, obwohl dessen Sittengesetze ganz besonders den Linken zusetzen würden.

In Sachsen ist das Gespür für die offizielle Lüge, aus leidvoller Erfahrung, sehr viel ausgeprägter als im Westen. Auch die Witterung für eine Selbstaufgabe als Nation, die der muslimischen Invasion mit offenen Armen begegnet.

Aber die verlangten Positionen wurden bezogen. Der Spiegel schrieb die Chemnitzer Demonstrationen zu einer Machtergreifung des braunen Mobs hoch, als zögen bereits paramilitärisch organisierte Nazis durch die Straßen. Es ist der Spiegel, stets auf der Kante zur Hysterie, der ja bereits mit der Wahl von Trump „das Ende der Welt“ verkündete und just den schönsten Sommer seit langem als Bestätigung des Klimawandels sah. Der Spiegel, der im „Widerstand gegen die tradierten Parteien“ bereits einen Bruch der Demokratie sieht, ausgerechnet dieses Magazin, in dessen DNS einst die Kritik an der Regierung fest verankert war.

Mittlerweile scheint der Schulterschluß mit der Regierung und ihren Verlautbarungen erste Bürgerpflicht zu sein. Zu den merkwürdigsten Verstauchungen im öffentlichen Raum zählt wohl diejenige, daß sich Linksextremisten, die noch vor einem Jahr Hamburg anläßlich des G20-Gipfels in Schutt und Asche legen wollten, mittlerweile zur Prätorianergarde des politischen Establishments aufschwingen dürfen. Die partizipieren dürfen am Rausch elitärer Grausamkeit. So trafen sich jüngst auf einer „Merkel muß weg“-Demo 187 Hamburger Bürger, die mit Wasserwerfern vor 10.000 Linksradikalen geschützt werden mußten. Das vom Bundespräsidenten angeregte Freiluftkonzert „gegen Rechts“ in Chemnitz wurde von 65.000 Menschen besucht.

Ob diese „Zusammenrottungen“ nun letztes Aufgebot der politischen Klasse sind, eine Art rotbrauner Volkssturm, der hier mobilisiert wird angesichts dramatisch sinkender Zustimmungsquoten und damit einer ausgewachsenen Legitimationskrise, oder einfach idiotischer Kampagnenirrsinn („Wir sind mehr“) als Festival der Selbstgerechten, läßt sich kaum unterscheiden. Aber eines ist sicher: Die Lüge hat sich endgültig eingenistet; wir sollen offenbar lernen, mit ihr zu leben und die Auflösung unserer Kommunikation wie unserer Institutionen als schicksalhaft hinzunehmen.