© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Gefallen und vergessen
Kriegsgedenken: WK-1-Grabung in Flandern findet in Berlin wenig Interesse – sie wird überbaut
Mina Buts

Es dauert eine ganze Weile, bis der Archäologe Simon Verdegem bei der Suche in den schwarzen Kunststoffkisten fündig wird. Er zieht ein durchsichtiges Plastiktütchen heraus und präsentiert in seiner Handfläche ein Häufchen schwarzes Metall, irgendwie verknotet, kaum identifizierbar. Das sei der Überrest eines Rosenkranzes, der einst einem deutschen Soldaten gehörte. Länger als hundert Jahre lag er in flämischer Erde, nun wurde er bei den Ausgrabungen der Archäologen des „DigHill80“-Teams im westflämischen Wijtschate geborgen.

 Wir drücken uns an einer mit weißem Papier belegten Holzplatte vorbei, auf der die Gebeine eines Gefallenen arrangiert sind: der Schädel, ein Teil der Wirbelsäule, Arm- und Beinknochen, aber nur ein Hüftknochen. Das sei die  schwierigste Arbeit, so Verdegem. Die Gebeine so zusammenzufinden, daß irgendwann klar wird, wie viele Tote auf dem Ausgrabungfeld in Wijtschate denn nun tatsächlich gefunden worden sind und aus welchen Ländern sie stammen.

 Langemarck für Preußen, Wijtschate für Bayern

Nach den Grabungen war das Archäologenteam davon ausgegangen, 135 Tote gefunden zu haben, deutlich mehr als ursprünglich erwartet. Die Zahl hat sich aber nach einer genauen Analyse der sterblichen Überreste schon um zehn vermindert. Ein Südafrikaner war dabei, ein Franzose, sieben Commonwealth-Soldaten. Der Rest seien Bayern gewesen, meist zu erkennen an den nicht verwesten Knöpfen der Uniformen, den Stiefeln und an den Gebissen. 

In England sei damals, anders als in Deutschland, bei der Musterung das Gebiß erfaßt worden, das mache die Bestimmung leichter. Zu etwa zwanzig Gefallenen gibt es noch keine Zuordnung; die dafür notwendigen Knochenanalysen sind aufwendig und teuer, das Geld, das durch Crowdfunding zusammenkam, fast aufgebraucht.

Zur Zeit befinden sich alle Funde aus Wijtschate im Atelier des Restaurators Ruben Willaert in Brügge. In einem Trog werden Schlamm und Lehm von den unempfindlichen Großobjekten gewaschen. Einige Fundstücke werden nur vorsichtig mit Pinseln gesäubert. Auf einem mit Zeitungspapier ausgelegten Tisch trocknen die Scherben von Geschirr – bei den Grabungen war der Keller einer Gaststätte freigelegt worden. Dabei wurde auch eine Menge grüner Glasflaschen geborgen; Bier, Schnaps und Wein, so Verdegem, seien tatsächlich die Hauptgetränke der Soldaten gewesen. Ein Mühlstein lehnt an einem Regal – entwendet aus der in der Schlacht um Wijtschate zerstörten Mühle, wurde er im Schützengraben zum Schleifstein für Bajonette und Messer umfunktioniert. 

Noch ist nicht klar, ob alle Funde auch überdauern werden. Zur Illustration präsentiert Verdegem einen lehmigen Klumpen, bei dem es sich um einen aus Leder gefertigten Helm eines deutschen Soldaten handelt. Ob dieser allerdings eine Reinigung übersteht, ist fraglich – möglicherweise zerbröselt er einfach. Auch zwei völlig verschlammte und feuchte Bibeln wurden geborgen. Erst nach der Trocknung ist es vielleicht möglich, sie aufzuschlagen und dann hoffentlich den Namen eines Besitzers zu erkennen. Verdegem hofft inständig, daß es gelingt, wenigstens einen Gefallenen namentlich identifizieren zu können.

Die Ortschaft Wijtschate, in der all diese Funde in der Erde schlummerten, liegt im westflämischen Heuvelland und zählt zu den vergessenen Symbolstätten des Ersten Weltkriegs. Erst als ein neuer Bebauungsplan erstellt wurde, rief dies neben Verdegem auch den Deutschen Robin Schäfer und seinen britischen Kollegen Peter Doyle auf den Plan.

Die drei Archäologen haben sich auf die Analyse von Kampfstätten spezialisiert. Da öffentliche Gelder für die Ausgrabungen nicht in Sicht waren, riefen die drei ein Crowdfunding-Projekt mit dem Namen „DigHill80“ ins Leben. Mehr als 140.000 Euro kamen zusammen, überwiegend gespendet in den USA und Großbritannien. Die deutsche Spendenbereitschaft war eher gering.

 Hobby-Archäologen konnten gegen Zahlung eines Geldbetrags mitgraben, die angebotenen Führungen über das Gelände waren kostenpflichtig. So kam dann doch das Geld für das geplante Projekt zusammen. Die ersten groben Arbeiten erledigte ein Bagger, danach ging es in Handarbeit weiter. 

Fünf Archäologen und ein aus Österreich angereister Sprengstoffexperte zählten zum festen Team, täglich waren  15 bis 25 Helfer in regem Wechsel im Einsatz. Sechzig Tage lang wurde mit Schaufeln gegraben, dann wurde die Zeit knapp. Daher war in den letzten drei Wochen des Projekts erneut ein Bagger im Einsatz. Für Verdegem „schwierig, denn man findet nicht alles“. Es könne schon noch ein kleineres Objekt übersehen worden sein, aber die Toten habe man alle geborgen. Die Anlage der Stellungen, erklärt Verdegem, habe man aus der Luft durch Drohnenaufnahmen erkennen können: Eine dunklere Färbung der Erde bedeute immer Bebauung oder Schützengraben, zwei Massengräber wurden erst bei den Ausgrabungen entdeckt. 

Ursprünglich war das Forscherteam davon ausgegangen, daß die Hauptschlacht auf der kleinen Anhöhe 1917 parallel zur immensen Sprengung der etwa einen Kilometer entfernten Schützengräben, bei der bis zu 10.000 bayerische Soldaten gefallen sind, stattgefunden hat. Dem sei aber nicht so gewesen: Ende Oktober 1914 wurden Truppen des 17. und 21. bayerischen Reserveinfanterieregiments nach Wijtschate verlegt; in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1914 fielen in einer einzigen Schlacht über 1.500 Soldaten, unter ihnen auch die meisten der jetzt gefundenen. Für eine Beisetzung blieb keine Zeit. Verdegem erzählt, daß im weiteren Kriegsverlauf durch ein deutsches Massengrab hindurch ein neuer Graben angelegt worden sei: „Die Leichen wurden einfach weggeschoben, die Arme eines Toten baumelten noch in den neuen Schützengraben hinein.“ Die gefundenen Gebeine der britischen Soldaten hingegen datieren aus dem Jahr 1918.

Im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT erläutert Robin Schäfer die Bedeutung der Schlacht von Wijtschate. Bis in die vierziger Jahre hinein habe dieser Ort in Bayern als ein Synonym für den Schrecken des Ersten Weltkriegs gegolten: „Was Langemarck für die Preußen war, war Wijtschate für die Bayern.“ Er hebt die besondere Tragik hervor, denn preußische, in der Nähe liegende Armeeverbände hatten ihre Unterstützung angeboten, was die Bayern jedoch kategorisch abgelehnt hätten. Nur Bayern würden Wijtschate einnehmen, habe es geheißen, so Schäfer. 

Im November werden die Archäologen ihre Ausgrabungsergebnisse in London präsentieren, die Veranstaltung ist bereits ausverkauft. 

Am 10. Dezember folgt eine zweite Präsentation in Ypern. Bis dahin sind hoffentlich alle Gebeine identifziert. Dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) obliegt es dann, die Gebeine der deutschen Gefallenen beizusetzen. Im Gespräch sind dabei die deutschen Soldatenfriedhöfe von Mesen und Langemarck. 

Bagger für den Bau von 29 Häusern sind angerückt

Bei der Überlegung, das internationale Projekt DigHill80 auch in einen ersten internationalen Soldatenfriedhof münden zu lassen, winkt Schäfer ab: Die Briten würden so etwa niemals zulassen, die nationale Gedenkkultur sei dort zu ausgeprägt. In Deutschland ist das Gegenteil der Fall. Schon während der Ausgrabung hatten deutsche Helfer den VDK um Unterstützung gebeten, aber keinerlei Rückmeldung erhalten. 

Auch ein bayerischer CSU-Politiker sei um Hilfe gebeten worden, dieser habe ebenfalls kein Interesse gezeigt. Einzig der Bundestagsabgeordnete Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD, hat sich in einem Schreiben an den VDK gewandt und um eine finanzielle Unterstützung des Projekts gebeten.

Nach wie vor benötigt das Projekt DigHill80 Unterstützung. Die Gebeine eines einzigen Toten zu bergen, zu waschen und zu identifizieren bedürfe dreier Arbeitstage, erklärt Verdegem. 

Es ist noch unklar, in welcher Weise dieser Kriegsgräberstätte in Zukunft gedacht werden soll. Die Bagger für den Bau von 29 Häusern sind in Wijtschate längst angerückt, später soll ein Wanderweg durch das Neubaugebiet angelegt werden; eine Gedenktafel könnte dort errichtet werden. Vor allem aber einen Wunsch hegt Robin Schäfer: eine würdige Zeremonie für die Beisetzung der Gebeine der gefallenen deutschen Soldaten.

Spendenkonto „DigHill80“: IBAN BE44 7360 4363 8445; SWIFT KREDBEBB

www.dighill80.com