© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Der Eigensinn ergrimmt die Erzieher
Unermüdliche Kolonisierung: Wie die Westdeutschen seit jeher auf Sachsen blicken
Eberhard Straub

Es ist unwahrscheinlich, daß aus Sachsen ein kulturelles und politisches Rheinland wird.“ Das ist die Quintessenz der „Kürzesten Geschichte Deutschlands“ von James Hawes, deren deutsche Übersetzung jetzt erschien, kurz bevor Chemnitz zum allerneuesten Symbol für eine schreckliche Ferne zum Rhein, zu Bonn, zu westlichen Werten und Bündnissystemen geworden ist. James Hawes ist sich mit Joachim Gauck, vormals Bundespräsident, darin einig, daß eine Distanz zu Bonn als Inbegriff gesunder kultureller und politischer Verfassung auf ein „Dunkeldeutschland“ verweist, „dessen fremdenfeindliche Umtriebe es zu bekämpfen gelte“. Denn dort zeige sich „ein brüllendes, autoritäres Gedankengut“.

Das war allerdings, wie James Hawes kurz und bündig behauptet, für den Osten schon immer typisch. Denn seit die Westdeutschen, seit dem 1. Jahrhundert nach Christi ein regsamer Teil des von Römern kultivierten Westeuropa, ab dem mittleren 10. Jahrhundert die Elbe überschritten, die große Bruchlinie mitten in Europa, die von den Römern als solche anerkannt worden sei, standen sie vor dem dauernden Dilemma, inwieweit sich Westbindung und ein östlich erweitertes Deutschsein miteinander vereinbaren ließe. 

Auf dem westlichen Weg zur einen Welt gelangen

Den kolonisierenden Westdeutschen gelang es offenbar nicht, in Jahrhunderten Ostelbien zu verwestlichen. Es blieb immer ein Dunkeldeutschland, das zuletzt Westdeutschland versklavte. „Ohne Ostelbien kein Führer, so einfach ist das.“ Dabei wollte freiwillig keiner in diesen trüben Zonen leben, weil immer in der Furcht, daß die einst überwältigten Eingeborenen den deutschen Invasoren wieder ihr von diesen gestohlenes Land abnehmen könnten. Diese Angst machte aggressiv und unsicher, also militaristisch, imperialistisch intolerant und mißtrauisch allem Fremden gegenüber.

Erst im Jahre 1949 fanden demnach in der rheinischen Republik, im Rheinbund an Frankreich angelehnt, die Deutschen zu einer Einheit in Freiheit. Sie waren nun endlich befreit von den lästigen Verstrickungen mit dem Osten, für den sie immer nur arbeiten und zahlen mußten, und der sie davon abhielt, ihrem Traum von der angelsächsischen, der westlichen Freiheit zu folgen. 

An diesem Traum hängen alle Länder, woran James Hawes inbrünstig glaubt, weil der angelsächsische Weg in Wahrheit dem natürlichen Lauf der Dinge entspreche. Die Weltgeschichte sei eine von der Natur als Vorsehung gelenkte Heilsgeschichte. Über die Verwestlichung und der von ihr bewirkten Humanisierung werden allmählich die vielen Welten zur einen Welt, erlöst von allen Übeln und Sonderwegen. Sie gelangen an das Ende der Geschichte. Dazu bestehe keine Alternative! Da es Störenfriede gebe, müßten wir aber wachsam bleiben. Nicht nur in Deutschland, überall im Westen. Sprechen nicht viele düstere Zeichen dafür, daß der Osten wieder erwacht, dies gefährliche Ostelbien, das Hitler erst seinen Triumph über die gutartigen Westdeutschen ermöglicht habe? Vor dieser beunruhigenden Frage stehe heute der Westen. Und vor dieser Herausforderung dürfe er nicht verzagen oder versagen! 

Der Westen, den mit religiösem Eifer James Hawes beschwört, ist eine reine Fiktion. Sie wurde als ideologische Waffe während des Ersten Weltkrieges gegen den preußischen „Untertanengeist“ und Kadavergehorsam verwandt, welche die bunte Vielfalt in einem Europa herzlicher Mitmenschlichkeit bedrohten. In dem gingen sämtliche Lichter aus, sollten schrecklicherweise die häßlichen und brutalen nahöstlichen Vorderasiaten, die Preußen, bekannt als kulturelle Hetzer und politische Ketzer, die westliche Wertegemeinschaft darum bringen, ihrer segensreichen Sendung weiterhin nachzukommen zu können.

Nirgendwo wird an den befreienden Westen so ergriffen geglaubt wie in Westdeutschland. Deshalb verdienen die längst abgenutzten antiöstlichen, im Grunde antipreußischen Klischees, die James Hawes bemüht, einige Aufmerksamkeit. Die rheinische Bundesrepublik war der erste deutsche Staat, der sich Deutschland nannte. Sie wollte der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches sein und richtete sich in einer Rechtsfiktion ein, die sie sehr rasch mit Westdeutschland verwechselten. In Westdeutschland als Teil des großherzigen und befreienden Westens, war endlich Deutschland frei geworden von allen möglichen, lästigen Geschichten und Erblasten, vor allem von preußischen. Der Gegensatz zum wahren, von seiner Geschichte durch den Westen erlösten Deutschland war die Ostzone, später der Osten genannt. 

Ostdeutsche waren für geistige Bonner keine richtigen Deutschen, sie waren rote Preußen, die preußischen Staatsterror mit sowjetisch gesellschaftlichem verknüpften. Dabei hatte der größte Teil der DDR nie zu Preußen gehört, das für die Sachsen seit dem 18. Jahrhundert zu ihrem Erbfeind geworden war. Kein deutscher Staat hatte unter den Preußen so zu leiden wie Sachsen.

Das blieb auch unter der Herrschaft der SED unvergessen. Sachsen waren keine Ostdeutschen, auch keine Ostelbier, weil ein Teil Sachsens westlich der Elbe liegt. Sie waren eben Sachsen und als solche Deutsche, sehr bevorzugte Deutsche, weil ohne Sachsen als Musiker, Dichter, Philosophen und Gelehrte aller Richtungen ein Begriff deutscher Kultur höchst unvollständig wäre. Sachsen war außerdem neben Schlesien und dem Ruhrgebiet das wichtigste industrielle Gebiet, von europäischer Bedeutung schon im Mittelalter. Deutsche bürgerliche Kultur von Besitz und Bildung war von Sachsen entschieden geprägt, die sich gar nicht in ihrer Heimat ängstlich verschanzten.

Dresden und Leipzig waren glanzvolle Residenzen

Dresden war zur Zeit Casanovas und später eine glanzvolle, ungemein elegante Residenz, besucht von allen Europäern, wie die Universität in Leipzig, die wichtigste Messestadt in Europa, auch der größten Buchmesse als unvergleichliche Stadt der Verlage, des Buches und des Geistes. Der junge Goethe, aus dem keineswegs provinziellen Frankfurt  kommend, fühlte sich in der ungewohnten großstädtischen Weltläufigkeit dieses deutschen Paris ziemlich unwohl. Leipzig um 1900 war aber auch der in die ganze Welt ausstrahlende Mittelpunkt der Sozialdemokratie, einer substantiellen, geistreichen Linken. Kurzum, Sachsen gehörte zu den Regionen im Deutschen Reich, die insgesamt – auch mit Chemnitz – wahrhaft europäischen Rang besaßen. Dieses Erbe und dessen Spuren konnten von der SED gar nicht vollständig vernichtet werden, zumal die Sachsen im „Osten“ gar nicht in ideologischer Einfalt verosten wollten. 

Aus Sachsen kam 1989 der Ruf „ Wir sind ein Volk“. Die Westdeutschen erschraken sehr, denn sie konnten sich gar nicht vorstellen, ein Volk zusammen mit Ostdeutschen, was Sachsen oder Thüringer und Brandenburger nie gewesen waren, zu sein oder wieder zu sein. Die Wiedervereinigung, eine genuin deutsche, nationale Herausforderung, sollte in westeuropäischer Gesinnung bewältigt werden, damit nie wieder ein uneuropäisches Deutschland Europa verwirren könne.

Die westdeutsche Westeuropabegeisterung belebte seit Adenauers Zeiten die Angst vor Deutschland. „Nie wieder Deutschland“ war die mannigfach nuancierte Staatsräson der Bundesrepublik. Auch nur die leiseste Entfernung von Bonn und dem Rheinbund, der westlichen Gemeinschaft, verursachte in Bonn Schüttelfrost. Im Beitrittsgebiet wie betreten die ehemalige DDR, „der Osten“, als Teil des erweiterten Deutschland von Westdeutschen genannt wurde – wobei Deutschland und Westdeutschland selbstverständlich ein und dasselbe waren – sahen die wahren Westeuropäer und Westdeutschen ihre Aufgabe darin, unermüdlich zu kolonisieren, um dort unterentwickelte Eingeborene zu Westdeutschen zu erziehen und auf ein europäisches Niveau zu heben, das nur als westeuropäisches wirklich europäisch sein kann. 

Die Sachsen wollen bleiben, was sie waren und sind, Sachsen und Deutsche. Sie wollen keine Westdeutschen, keine geistigen Bonner und Rheinländer werden. Dieser Eigensinn ergrimmt ihre Vormunde und Erzieher, die es empörend finden, wenn sie auf Widerstand stoßen, gar auf deutschen. Denn deutsch erinnert an Preußen, an den Nationalsozialismus, an den Kommunismus. Deutsch sein meint, der Marktfreiheit zu mißtrauen, der Globalisierung und der einen Welt mit dem einen Menschen und sich der Offenheit in nationaler Einkapselung zu verweigern. Aus dem Sachsen muß deshalb ein Westdeutscher und ein Westeuropäer werden.

Die geistigen Bonner sind jetzt von Berlin aus jene beschränkten Köpfe, die sich trotz aller Beschwörung eines bunten Deutschland gar nicht vorstellen können, daß es außer westdeutschen Fiktionen eine Wirklichkeit gibt jenseits der Welt als Traum im ideologischen Wolkenkuckucksheim. 

James Hawes: Die kürzeste Geschichte Deutschlands. Propyläen, Berlin 2018, gebunden, 332 Seiten, 18 Euro