© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Mitgefühl mit dem Opfer
Justizdrama: Der Film „Naomis Reise“ verhandelt einen Mordfall
Sebastian Hennig

In dem Gerichtsfilm „Naomis Reise“ wird ein Tötungsdelikt verhandelt. Die 28jährige Peruanerin Mariella wurde von ihrem deutschen Ehemann (Romanus Fuhrmann) getötet, nachdem sie ihn verlassen hatte. Er sitzt während der Verhandlung finster schweigend auf seiner Bank. Gelegentlich richtet er einen fragenden Blick an den eloquenten Verteidiger (Christian Voss). Vor allem die Einblicke in das Milieu des Opfers färben den Film.

Die jüngere Schwester Naomi (Scarlett Jaimes) ist mit ihrer Mutter Elena (Liliana Trujillo) nach Berlin gereist, um als Nebenkläger der Verhandlung beizuwohnen. Mariellas mexikanische Freundin Isabel (Citlali Huezo) und deren Mann nehmen sie auf. Als die Mutter erkrankt, geht Naomi allein zur Verhandlung in den immer noch prächtigen Torso des Königlichen Land- und Amtsgerichts von 1904 auf der heutigen Littenstraße in Berlin-Mitte. Die Kulisse des Vestibüls verbrämt so manchen deutschen Kriminalfilm und dient auch hier wieder als ein beredtes Symbol für die Disproportion von Schuld und Sühne.

Das Mädchen mit den fein geschnittenen Gesichtszügen steht mit seiner Freundin und der Anwältin der Nebenklage (Undine Weyers) vor diesem Rätsel aus Gängen und Treppen. Eine Verurteilung des Täters steht außer Frage. Doch für die Bemessung der Strafe bleibt entscheidend, ob er vorsätzlich und aus niedrigen Beweggründen gehandelt hat. Die Erörterung stellt für die Betroffenen eine Tortur dar. 

Zu ihrem Justizdrama wurden Regisseur Frieder Schlaich und seine Drehbuchautorin Claudia Schaefer durch die Erlebnisse eines Gerichtsprozesses angeregt. Wie wohl jeder juristische Laie, der zum ersten Mal der Urteilsfindung für ein Tötungsdelikt beiwohnt, waren sie bestürzt über die reduzierte Sachlichkeit der Verhandlung im Angesicht der Tragweite des Vorgefallenen. Was ein beachtlicher Vorzug der deutschen Rechtsprechung ist, konnten sie nur als Entwürdigung des Opfers und Mißachtung der Hinterbliebenen empfinden.

Freilich ist die verlangte Nüchternheit im Erkunden der Voraussetzungen und Motive einer offenbaren Schandtat ein Drama an sich. Dieses Dilemma wurde dereinst mit der brachial-kathartischen Wendung durch die öffentliche Hinrichtung des überführten Straftäters aufgelöst wie ein gordischer Knoten durch Alexanders Schwert. Davon sind wir in Europa aus guten Gründen abgekommen. Rechtsprechung ist keine Rechthaberei. Notwendigerweise muß also auf seiten der Geschädigten immer ein Rest ungesättigter Empörung zurückbleiben.

Richter und Anwälte sind echte Juristen

Es gelingt dem Film nicht zuletzt darum ausgezeichnet, diese Verwerfungen darzustellen, weil die Richter und Anwälte zum großen Teil sich selbst darstellen. Ihre Filmhaltungen sind jenen angenähert, die sie auch im richtigen Leben vertreten. So hat der Staatsanwalt Martin Mrosk eine Arbeit über „Abgrenzungsmerkmale bei Tötungsdelikten“ publiziert, und die Anwältin Undine Weyers wurde 2016 mit dem Maria-Otto-Preis für die Unterstützung von Opfern rechtsextremer Gewalttaten und für die Stärkung der Rechte mißhandelter Frauen geehrt.

Durch die Präsenz der Bilder, die vor allem Mitgefühl mit dem präzise umrissenen Opfermilieu hervorrufen sollen, bleibt der Film so parteiisch, wie es ein Gericht nie sein darf. Dabei ist aber auch der Täter zumindest ein Opfer seiner Illusionen geworden. Ein Zeuge beschreibt das Verhältnis der deutschen Männer zu südamerikanischen Frauen als einen „Deal unter Erwachsenen“, bei dem jeder wüßte, daß er den anderen belüge. Das habe sein Freund nicht wahrhaben wollen. Petra Kelling als Mutter des Angeklagten schildert die Beziehung ihres Sohnes zu seiner importierten Braut ebenso illusionslos: „Die Familie war ja sehr arm, und mein Sohn hat ihr schöne Sachen gekauft.“ Die Nebenklage weist die Einsicht empört zurück, daß das sittlich Fragwürdige des Handelns auf beiden Seiten liege.

Hier prallen zwei unterschiedliche Lebensformen aufeinander. Unserem Empfinden nach ist ein Mensch, der getötet hat, in gewisser Weise durch sein verwerfliches Handeln bereits gerichtet. An einem solchen Makel trägt es sich in unseren Breiten weit schwerer als in den stärker von Gewalt und Tötungsverbrechen geprägten Ländern Lateinamerikas. In Peru ereignen sich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung deutlich mehr gewaltsame Tötungen als in Deutschland.

Die Freundinnen des Opfers lassen sich im Zeugenstand zu Beschimpfungen hinreißen. Ihre Vorwürfe können sie nicht belegen. Der verhandlungsführende Richter weist immer wieder darauf hin, daß jede Emotionalisierung den Grundsätzen einer neutralen Urteilsfindung zuwiderlaufe. Er besteht auf einer reibungslosen und konzentrierten Verhandlung. Zugleich dämmt er aber auch die Tiraden des Verteidigers ein. 

Ob Naomi in Berlin bleiben wird, erfahren wir nicht. Ihr makelloses Gesicht leiht dem Film eine Maske des Vorwurfs, die nahelegt, uns schuldig zu fühlen für die Unterschiede zwischen Mann und Frau, zwischen Deutschland und Peru sowie für die unselige Entsprechung von Geldgier und Gier nach Lust.