© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Der Former des europäischen „Culturganzen“
Eine Studie des Ideengeschichtlers Martin Ruehl über das komplizierte Islam-Bild des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt
Wolfgang Müller

Schon im vierten Satz seines Essays über „Jacob Burckhardt und der Islam“ (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2018) spricht Martin A. Ruehl beflissen distanziert von der „vermeintlichen Islamisierung“ Europas, vor der Althistoriker wie Egon Flaig dieser Wortwahl zufolge unbegreiflicherweise warnen. Obwohl in Cambridge als „Professor für deutsche Ideengeschichte“ wirkend, bescherte der räumliche Abstand Ruehl offenbar nicht die Freiheit, sich auch geistig aus dem Verhau bundesrepublikanischer Denk- und Sprechverbote zu entfernen.

Das Signalwort „vermeintlich“ zeigt auch zuverlässig an, worum es Ruehl beim Thema Jacob Burckhardt geht: um Verständnis für eine Religion, die ohne Grund „kulturalistisch und rassistisch“ kategorisiert werde. Zu diesem Zweck, den Ruehl am Ende nicht erreicht, muß das vorherrschende Bild, der Baseler Kulturhistoriker sei ein Gegner, ja ein Hasser und Feind des Islam gewesen, korrigiert werden. Um sich bei dieser Operation nicht mit einer Radikalrevision tradierter Auffassungen zu blamieren und so vornherein die eigene Glaubwürdigkeit zu untergraben, räumt Ruehl mit der oft zitierten „Kaskade islamfeindlicher Werturteile“ aus den „Historischen Fragmenten“ und mit ähnlich abfälligen Passagen aus anderen Werken Burckhardts zunächst generös ein, daß fündig werde, wer seine anti-islamischen, „rassistischen Typologien“ bestätigt bekommen möchte. 

Sein Islambild zeuge von Trivialität und Fanatismus

Der überragende Zeitdiagnostiker sei fraglos und nicht nur auf diesem Feld „unheilbar politically incorrect“ (Lional Gossman) gewesen. „Ohne große Umstände“ lassen sich viele Ausfälle als „orientalistisch“ im Sinne Edward Saids klassifizieren. Der hatte in einem zum Standardwerk avancierten Rundumschlag gegen die europäisch-nordamerikanische Orientalistik („Orientalism“, 1979) deren Forschungen in toto als Konstruktion „eurozentrischer Stereotype“ attackiert. 

Burckhardt, der die Werke orientalistischer Kollegen rezipierte und in deren Rastern dachte, füge sich vollständig in Saids Schema, wenn er den Islam als „kahle Religion“ diffamiere, die einer „eintönig-kahlen Wüstenlandschaft“ entspringe. Geistig-seelische und physisch-geographische Öde entsprächen bei ihm einander. Ebenso resultiere aus der Primitivität der islamischen Religion die tyrannische Struktur ihrer Herrschafts- und Gesellschaftsordnung. Was Europa groß gemacht habe, müsse daher im monokulturellen „islamischen Gottesstaat“ fehlen: Bildung, Geistigkeit, Freiheit, Individualität, kulturelle Vielfalt. Die „Kulturwidrigkeit“ dieses „starren Monotheismus“ mit seiner fatalen Fusion von Religion und Staat ist folglich „der mit Abstand größte Vorwurf, den Burckhardt dem Islam macht“.

Ungeachtet dieser harten Verdikte dürfen Egon Flaig und andere „Verteidiger des Abendlandes“ heute aber nicht auf die Autorität des Kronzeugen Burckhardt pochen. Zum einen deshalb nicht, wie Ruehl mit den Verweisen auf Said behauptet, weil der Experte für die griechische und die Kulturgeschichte der Renaissance sich beim Islam auf fachfremden Terrain bewegte, kein Arabisch sprach, historische Quellen nicht im Original studieren konnte. Stattdessen kolportierte er nur „Vorurteile“, die die zeitgenössische Orientalistik über „vermeintlich typische islamisch-arabische Eigenschaften“ geprägt hatte. Zum anderen deshalb nicht, weil ein ungedrucktes Vorlesungsmanuskript aus dem Sommer 1885 ein „tieferes Verständnis des Islam“ dokumentiere, das Burckhardt nicht erst zum Ende seiner Karriere an den Tag legte, sondern das sich 1840 schon in den Seminararbeiten des Studenten finde. 

Für Ruehl erweist sich diese Entdeckung als zweischneidig. Will er doch den Wert der radikal negativen Urteile über den „kultur- und geistfeindlichen Islam“, wo alles von „Trivialität und Fanatismus“ zeuge, dadurch relativieren, daß er dem Kunst- und Kulturhistoriker die orientalistische Kompetenz bestreitet. Aber dann kommt den sein Herz erfreuenden positiven Urteilen dieses „Dilettanten“, seinen „verstreuten Bemerkungen“, den Marginalien zur „Kulturhöhe“ des „Mohammedanismus“, über die „zum Individuellen strebenden“, aus dem nivellierenden Islam ausbrechenden Beduinen, kein höheres fachliches Gewicht zu. 

Der Islam als „permanenter Antagonist“ Europas

Somit zeichnet der Ideenhistoriker zwar ein ambivalentes Islam-Bild Burckhardts, das „komplizierter und facettenreicher“ ist als bisher angenommen, das aber, in der Logik von Ruehls Deutung, negativ wie positiv zwangsläufig nur aus „Vorurteilen“ besteht. Im gegenwärtigen Kampf der Kulturen läßt sich dieser „weiße tote Mann“ also weder gegen noch für den Islam instrumentalisieren, obwohl Ruehl konzediert, daß „Kreuzfahrer“ wie Flaig ihn unterm Strich mit größerem Recht vereinnahmen dürften, weil der „alteuropäische“ Gelehrte „Europa und Islam nicht wirklich zusammendenken konnte“. 

Aber er habe im Islam auch nicht den „Todfeind“ Europas gesehen. Vielmehr den „ständigen Sparringspartner“, den „permanenten Antagonisten“, der unfreiwillig mithelfe, „‘occidentales Gemeingefühl’ zu schaffen und die ‘europäischen Völker zu einem Culturganzen zusammen zu gewöhnen’“. Mit seinen unentwegten Expansionsversuchen habe der Islam letztlich nur Europas Selbstbehauptungswillen provoziert, seine Identität gefestigt und, wie Ruehl vorwurfsvoll meint, die „abendländischen Überlegenheitsgefühle“ eines Jacob Burckhardt befeuert. Nur mit einem solchen auf Abstand gehaltenen Islam, so wäre gegen die Intentionen Ruehls zu folgern, dürfte Europa das 21. Jahrhundert überstehen.