© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Eine der letzten Chancen
Vorstoß gegen Ungarn: In Wahrheit geht es um die Masseneinwanderung
Thorsten Hinz

Das Europaparlament hat mit Zweidrittelmehrheit ein Verfahren gegen Ungarn beschlossen mit dem Ziel, der Regierung auf EU-Ebene das Stimmrecht zu entziehen. Zur Begründung werden die „systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn“ angeführt. Doch jeder weiß, worum es in Wahrheit geht: Ungarn und die anderen Visegrád-Staaten weigern sich, es den Westeuropäern gleichzutun und ihre Grenzen für eine Masseneinwanderung aus der Dritten, vornehmlich moslemischen Welt zu öffnen. 

Praktisch wird der Vorstoß aus Straßburg ins Leere gehen, denn der Entzug des Stimmrechts erfordert einen einstimmigen Beschluß im Europäischen Rat, und Polen hat schon angekündigt, dagegen zu votieren. Um einen Skandal handelt es sich gleichwohl, denn wenn einer Regierung, die mehrmals in freien Wahlen das Vertrauen des Volkes errungen hat, die Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen wird, stuft man den Staat symbolisch zum Protektorat herab. 

Ministerpräsident Viktor Orbán wies vor dem Straßburger Plenum darauf hin, daß sein Land „seit tausend Jahren Mitglied der Familie der christlichen europäischen Völker ist“, dem Kommunismus getrotzt und 1989 „seine Grenzen für seine ostdeutschen Schicksalsgenossen“ geöffnet hat. Er appellierte an ein Geschichtsbewußtsein, das den meisten Abgeordneten längst fehlt. Dieses Europaparlament und die EU-Bürokratie stehen nicht für die historische, geistige und kulturelle Dignität des Kontinents, sondern für die Totalherrschaft einer Gegenwart, in der Volkssouveränität, Demokratie und Gewaltenteilung auf Kampfbegriffe wie Diversität, Teilhabe, Antidiskriminierung geschrumpft sind.

Eine wichtige Rolle spielt dabei der Globale Migrationspakt, der von mehr als 190 Uno-Mitgliedstaaten Ende des Jahres unterzeichnet werden soll. Die Unterschrift verweigern wollen die USA und eben Ungarn, das erklärte, der Vertrag widerspreche den Landesinteressen. Der Pakt sieht humanitäre Visa und Umsiedlungsprogramme für Migranten vor, die ihr Heimatland wegen Umweltzerstörung und Klimawandel verlassen müssen. Sie sollen in den Zielländern Zugang zu Gesundheit, Wohnen, Bildung und zum Rechtssystem erhalten und per Gesetz vor Diskriminierungen geschützt werden. Familienzusammenführungen sollen erleichtert werden.

Während die Ungarn auf ihr Recht pochen, innerhalb der eigenen Grenzen selbstbestimmt zu leben, betätigt die EU sich als Agentur des Globalismus und sieht ihre Aufgabe darin, den Nationalstaaten auch das Recht auf existentielle Selbstverfügung zu nehmen und den Kontinent nach Afrika und Vorderasien grenzenlos zu machen. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk äußerte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur laufenden Agenda, „daß wir hier ein historisch einzigartiges Experiment wagen, und zwar eine monoethnische und monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln. Das kann klappen, (...) dabei kommt es aber natürlich auch zu vielen Verwerfungen.“ Wenn sich jemand dem entgegenstelle, dann müsse „ganz klar“ gezeigt werden, „daß der Staat fähig ist, die Menschen, die dagegen aus Haß verstoßen, richtig zu bestrafen“.

Die Menschen und Völker östlich der Elbe sind schon einmal die Objekte eines „einzigartigen Experiments“ gewesen, das von 1945 bis 1989 dauerte. Es ist tief in ihnen und im Gedächtnis ihrer Nachkommen eingeschrieben. Der neue West-Ost-Konflikt, der sich an der Behandlung Ungarns durch die EU entzündet, geht also weit über das hinaus, was die Theoretiker der Postdemokratie als neoliberales Formtief des liberalen Systems beschreiben. Der polnische Philosoph Ryszard Legutko, der zur Zeit sein Land im Europaparlament vertritt, sieht im multiethnischen und -kulturellen Projekt eine dem kommunistischen Experiment tendenziell vergleichbare, totalitäre Energie wirken. 

Auch heute werden die vermeintlich Guten, die unter Freiheit die Bejahung des finalen Ziels verstehen, vom Staat von den vermeintlich Bösen geschieden, deren „Widerstand im Interesse aller gebrochen werden muß“. Weil man sie auf der sachlichen Ebene nicht widerlegen kann, werden sie moralisch als Rassisten und Faschisten stigmatisiert. Die zweite Parallele ist die Politisierung sämtlicher Lebensbereiche bis in die schulische Bildung, die Sprache und sogar die privaten Beziehungen.

Der neue Ost-West-Konflikt reißt in der Bundesrepublik einen innerstaatlichen Graben auf. Während der Politik- und Mediendiskurs nahezu vollständig die multiethnische Transformation bejaht und die Bevölkerung im Westen bisher nur punktuell Widerspruch wagt, durchschauen die Menschen im Osten aus historischer Erfahrung die Mechanismen der Indoktrination und verweigern sich ihr mehrheitlich. 

Es handelt sich um einen Widerstand von unten. Es gibt kaum alteingesessene Politiker, Akademiker und Journalisten, die als Wortführer agieren könnten, weil die Unterwerfung unter den West-Diskurs für karriereorientierte Ostdeutsche das Entréebillet zum Aufstieg bildete. Die oft ungeschickte Artikulation der Proteste nehmen die Medien zum Anlaß, sich zur Hetzmeute der Rechtgläubigen zu formieren und die Demonstranten als „Mob“ zu verhöhnen. Die Aggressionen lassen auf Ratlosigkeit, unterdrückte Zweifel und Selbsthaß schließen. Auch deshalb ist die aktuelle Ost-West-Kontroverse für Deutschland und Europa eine der letzten Chancen, um sich aus dem Strudel der Selbstabschaffung zu befreien.