© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Im Sumpf der Gewalt
Clan-Kriminalität: Die kaltblütigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden arabischen Großfamilien erreichen eine neue Qualität
Björn Harms / Martina Meckelein

Bisweilen erinnerte die Trauerfeier auf dem Neuen Zwölf-Apostel-Kirchhof in Berlin-Schöneberg  an einen offiziellen Staatsakt. Hunderte junge Männer trugen einen Sarg, eingehüllt in die palästinensische Flagge, im muslimischen Teil des Friedhofs zu Grabe. Am Rande der Backsteinmauern wachten rund 150 bewaffnete Polizisten. Nein, eine gewöhnliche Beerdigung war die Beisetzung von Nidal R., Berlins wohl bekanntestem Intensivstraftäter (JF 38/18), keinesfalls. Die Clan-Chefs hatten gerufen und rund 2.000 Angehörige waren gekommen – unter ihnen einige der gefährlichsten Männer der Hauptstadt, Vertreter diverser arabischen Großfamilien.

Noch am Abend verlagerte sich die Trauerfeier in die islamistische Dar-as-Salam-Moschee in Neukölln, die seit 2014 in den Jahresberichten des Verfassungsschutzes erwähnt wird. Hier soll es Gerüchten zufolge zu einem Schlichtungsversuch unter den Clans gekommen sein. Denn der am 9. September verübte Mord an Nidal R., dem Umfeld der Abou-Chaker-Familie zugehörig, bildete keine Ausnahme, sondern lediglich den jüngsten Höhepunkt der ausufernden Gewalt im Berliner Clan-Milieu. Am hellichten Tag hatten drei Unbekannte achtmal auf den 36jährigen geschossen, den Schwerkriminellen regelrecht hingerichtet. Noch in der Nacht verstarb er im Krankenhaus. Die bislang unbekannten Täter flüchteten mit einem Auto, das Tage später in Flammen aufging. 

„Wir müssen der Organisierten Kriminalität die Grenzen aufzeigen“, forderte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) nur kurze Zeit später. Jetzt gehe es darum, kriminellen Clan-Mitgliedern das Leben in der Hauptstadt so ungemütlich wie möglich zu machen. Von einer schnellen Einsicht kann nach den jüngsten Vorkommnissen allerdings kaum die Rede sein. Auch Geisel mußte kleinlaut eingestehen: „Lange Zeit ist beim Kampf gegen die ausufernde Clan-Kriminalität nicht genügend geschehen.“ 

Das LKA warnt vor einer zunehmenden Bewaffnung

Derzeit vergeht wohl kaum eine Woche, in der die Medien nicht ausführlich über die eskalierenden Clan-Aktivitäten berichten. So feuerte Anfang August ein Araber, dem Umfeld einer Großfamilie zugehörig, achtmal auf die Außenfassade eines Lokals in Berlin-Kreuzberg. Nach einer öffentlichen Fahndung stellte sich der 30jährige Schütze den Behörden. Im Ortsteil Britz fielen am 3. September Schüsse aus einem Auto, durch die zwei Männer vor einem Wettbüro schwer verletzt wurden. Beide sollen der Großfamilie Abou-Chaker angehören. Noch am selben Abend lieferten sich etwa 30 Mitglieder zweier Familienclans im Graefe-Kiez eine Massenschlägerei.

Möglichst zeitnah wollen sich nun Innensenator Andreas Geisel (SPD), Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) und Justizminister Dirk Behrendt (Grüne) an einen Tisch setzen. Der Austausch zwischen den einzelnen Behörden soll verbessert werden, heißt es. Maßnahmen, die längst überfällig sind, meint Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD): „Eine Null-Toleranz-Strategie kann nur Erfolg haben, wenn alle Behörden über vollständige Informationen verfügen und eng zusammenarbeiten“, verdeutlichte er in der B.Z. Man müsse genau hinsehen, wenn etwa ein Clan-Mitglied eine Immobilie kaufe oder bei Sozialleistungen betrüge – ganz zu schweigen von einer genauen Herkunftsüberprüfung der meist „staatenlosen Palästinenser“ (JF 47/17).

Gerade letzteres gilt als brisantes Thema: Bis 2008 existierte bei der Berliner Polizei die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Identität (GE Ident), deren einziger Auftrag darin bestand, die Herkunft von besonders gefährlichen Straftätern innerhalb der „libanesischen Kurden“ zu ermitteln. Neben der strikten Strafverfolgung sollten die entsprechenden Personen „gezielt aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zugeführt werden“.

Dieser Einsatz führte schließlich zu 43 Abschiebungen aufgrund aufgedeckter falscher Identitäten. Weitere 45 Schwerkriminelle reisten freiwillig aus, als sie Wind davon bekamen, daß die Behörden ihnen auf die Schliche gekommen waren. Die Arbeit fruchtete, bis der rot-rote Senat die Ermittlungsgruppe einstampfte. „Ein riesiger Fehler“, beklagt der innenpolitische Sprecher der AfD-Berlin, Karsten Woldeit, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Die Netto-Abschiebung von fast 100 Personen war ein erheblicher Schlag für die Organisierte Kriminalität.“ Die sofortige Wiedereinsetzung der GE Ident sei unumgänglich.

Ein Vorschlag, dem der Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt (LKA), Sebastian Laudan, wohl kaum widersprechen würde. Nur wenige Stunden nach dem Mord an Nidal R. stellte er sich dem Innenausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses. Seine Behörde beobachte eine Tendenz zur Bewaffnung, warnte er. Ein Schwerpunkt sei vor allem die Rapper-Szene. Dort gebe es ständig wechselnde Allianzen. Prominentestes Beispiel ist der Berliner Rapper Bushido, der sich kürzlich von seinem langjährigen Geschäftspartner, Clan-Chef Arafat Abou-Chaker, trennte. Der Rapper wechselte kurzerhand die Seiten und suchte Schutz bei der konkurrierenden Großfamilie Remmo – seitdem gibt es Spannungen. Familienoberhaupt Ashraf Remmo warf Arafat Abou-Chaker sogar öffentlich vor, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. In der Welt der Clans, in der die Omertà gilt, bedeutet dies Hochverrat. Zwar bestritt der Beschuldigte den Vorwurf, die Gefahr aber bleibt real. Das LKA mußte in den vergangenen Wochen mehrere Gefährderansprachen bei beiden Familien durchführen.

Dabei steht die kriminelle Großfamilie R. bereits seit längerem im Fokus der Ermittler. Es kam zu mehreren Razzien, infolge derer die Behörden 77 Immobilien, Sportwagen, Geld und insgesamt 2,4 Kilogramm Cannabis beschlagnahmten. Gerade beim Vermögen der Clans müsse weiter angesetzt werden, begrüßt auch AfD-Politiker Woldeit die jüngsten Maßnahmen des Senats. Die Justizbehörde nutzt hierfür die seit 2017 gesetzlich verankerte Möglichkeit der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung. Demnach können Gelder, die aus Sicht der Ermittler aus kriminellen Handlungen stammen, auch dann eingezogen werden, wenn keine konkrete Straftat nachzuweisen ist. Notwendig aber sei die zusätzliche Einführung der Beweislastumkehr, erklärt Innenpolitiker Woldeit der JF. Nach dem Vorbild Italiens müsse der Gesetzgeber hierfür eine verfassungskonforme Regelung schaffen.

Verteilungskämpfe auch in anderen Bundesländern

Probleme mit kriminellen Araberclans breiten sich derweil nicht nur in Berlin aus. In Nordrhein-Westphalen kam es in den letzten Wochen zu zwei Vorfällen, deren Ursache eine Auseinandersetzung zwischen der arabischen Großfamilie Miri und der Rockergruppe Bandidos gewesen sein soll. Nach Auskunft der Polizei stach ein Tatverdächtiger aus dem Bandidos-Umfeld in der Dortmunder Innenstadt auf einen 32jährigen ein und verletzte ihn lebensgefährlich. Einen Tag später fielen Schüsse im Stadtteil Eving.

Im niedersächsischen Salzgitter durchsuchten Beamte Ende August zehn Objekte der Großfamilie Miri – begünstigt durch eine seit März geltende Landesrahmenkonzeption „zur Bekämpfung krimineller Clanstrukturen“. Das bundesweit erste Konzept dieser Art wird von Sicherheitsexperten als ausgesprochen pragmatisch und unideologisch gelobt. Ein mögliches Vorbild auch für Berlin?