© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Mit Anti-EU-Politik durchstarten
Italien: Keine ernüchternde Regierungsbilanz nach hundert Tagen / Lega-Chef sorgt für frischen Wind
Marco F. Gallina

Die Regierung hat die Erwartungen der Presse nicht erfüllt. Italienische wie deutsche Medien stellten Ministerpräsident Giuseppe Conte nach hundert Tagen eine ernüchternde Bilanz aus. Die linke Tageszeitung Repubblica sprach von Wahlversprechen, die Ankündigungen geblieben seien. 

Die Deutsche Welle nannte die Regierung ein „populistisches Experiment“, das von „Rechtsradikalen“ getragen werde, und zeigte sich empört, daß man erst ab Oktober mehr zu den finanziellen und sozialen Vorhaben der Regierung sagen könne. Gerne zitiert man in den Medien jenseits und diesseits der Alpen den Politikprofessor Maurizio Ferrara, welcher der Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und Lega „Ahnungslosigkeit“ unterstellte.

Präsident Conte überrascht durch Unkonventionalität  

Die einstimmige Bewertung in den großen Medien hat allerdings einen Schönheitsfehler: die Zustimmung für die gelb-grüne Koalition erreichte vergangene Woche einen Rekordwert. 

62 Prozent der Italiener zeigten sich zufrieden mit Contes Regierung und deren Hauptstützen: nämlich Luigi Di Maio, der als Spitzenkandidat des M5S angetreten war, und dem Parteivorsitzenden der Lega, Matteo Salvini.

 Letzterer ist in Italien zu einer Ikone geworden, seitdem er mit seiner rigiden Migrationspolitik die Schlagzeilen dominiert und auch auf europäischem Parkett für Unruhe sorgt. Das deutlichste Signal ist der Aufstieg der Lega in den Umfragen: im März hatte die Lega bei den Wahlen 18 Prozent geholt, mittlerweile hat sie ihren Wert auf 32 Prozent fast verdoppelt. Der 45jährige Mailänder  katapultiert die Lega bei Umfragen auf Platz eins – sie liegt bereits drei Prozentpunkte vor dem Koalitionspartner M5S. Die sozialdemokratische Konkurrenz vom Partito Democratico (PD) krebst zwischen 16 und 17 Prozent herum.

Neuerlich zeigt sich ein großer Graben zwischen der Wahrnehmungswelt der Medien und etablierter Politik sowie der tatsächlichen Stimmung im Land. Die Italiener hatten Salvini und Di Maio aus zwei Gründen ihre Stimmen gegeben: gegen die EU und gegen die Migration. 

Beide Themen weiß Salvini wie kein anderer zu bedienen. Der sagte bereits bei seiner Amtseinführung als Innenminister den Schleppern den Kampf an. Das Ergebnis: bis September 2018 haben rund 20.000 Migranten Italien erreicht – im Vorjahr waren es zu diesem Zeitpunkt noch 100.000. Der Mailänder  will aber nicht nur die Immigration beschränken, sondern auch die Asylverfahren und Abschiebungen beschleunigen.

 Im September soll ein neues Migrationspaket folgen, das die Kosten von Flüchtlingszentren und Flüchtlingen massiv beschränken soll. Rund 55 Prozent der Italiener unterstützen die Migrationspolitik Salvinis, bei den Wählern der Lega und des M5S sind es 85 Prozent respektive 75 Prozent.

Auch Conte, der von Beobachtern zuerst als willfährige Marionette Di Maios und Salvinis gehandelt wurde, überrascht als Premier im positiven Sinne. Der Politiker ohne Parteibuch macht auf dem außenpolitischen Parkett eine gute Figur und weiß sich den EU-Granden um Jean-Claude Juncker ebenso zu widersetzen, wie auch die italienische Position gegen Angela Merkel durchzudrücken. 

Mit Donald Trump pflegt er dagegen ein gutes Verhältnis. Mit 61 Prozent liegt er bei den Beliebtheitswerten sogar einen Prozentpunkt vor Salvini. Conte ist dabei keine reine Repräsentationsfigur: als Salvini ankündigte, alle Zigeuner in Italien zählen zu lassen, hielt der Premier seinen Innenminister im Zaum. „So regieren wir nicht, du mußt das berichtigen“, rief er Salvini zur Ordnung. Der folgte ohne zu murren. Conte ist das elegante Korrektiv gegen populistische Revoluzzer und utopistische Träumer in den Regierungsreihen.

Time Magazin: „Salvini – Das neue Gesicht Europas“

Zu letzteren gehören die Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung um Di Maio, die am liebsten soziale Wohltaten wie ein Grundeinkommen durchsetzen wollen trotz des italienischen Schuldenbergs und ungelöster Finanzierungsprobleme. 

Diese Frage birgt den eigentlichen Sprengstoff der Koalition, denn die eher wirtschaftsliberale Lega möchte zugleich eine Flat-Tax einführen – wovon sich besonders der norditalienische Mittelstand Erleichterungen erhofft, der zur Stammklientel der Lega gehört. Der Ärger mit der EU ist unausweichlich. „Wir sind sehr darüber besorgt, was die Märkte dazu sagen werden“, äußerte EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani.

Die Europäische Union ist das erweiterte Spielfeld Salvinis geworden – so sehr, daß einige Zeitungen den Innenminister bereits irrtümlich für den Regierungschef halten. Salvini will eine „europäische Lega“, einen Bund populistischer Parteien auf EU-Ebene. Angesichts der drohenden Sanktionen gegen Ungarn und dessen Ministerpräsidenten Viktor Orbán eröffnen sich für die Lega neue Allianzen. Salvini nennt Orbán ein „Vorbild“; der Ungar bezeichnet den Italiener als „Helden“. 

Sollte die Lega ihre Umfrageergebnisse halten, könnten die Europawahlen 2019 das einstige Fraktionssystem erheblich erschüttern. Die gemeinsamen Interessen in Fragen der Migrationspolitik eröffnen zudem Optionen mit anderen „populistischen“ Parteien wie auch mit den Visegrád-Staaten und Österreich. 

Italien wird nach dem Austritt des  Vereinigten Königreichs wieder Nummer drei im europäischen Mächtekonzert – und damit zum natürlichen Rivalen der alten Achse Berlin-Paris. Zusätzlich unterhält sowohl die Lega als Partei als auch die italienische Regierung gute Kontakte nach Moskau und Washington, ganz entgegen dem europäischen Zeitgeist, der auf Konfrontationskurs mit West und Ost gehen will.

Das US-amerikanische Time-Magazin setzte dieser Bedrohung der alten Ordnung ein Denkmal. Eine boshafte Salvini-Fratze in schwarz-weiß prangt auf dem Cover der neuesten Ausgabe. Der Titel: „Das neue Gesicht Europas“. Die populistische Teufelsgestalt ist zu einem weltweiten Symbol geworden. Es ist zugleich die eigentliche Botschaft des Kabinetts Conte. 

Die ruhigen Zeiten des Durchregierens in Berlin und Brüssel sind vorbei. Ausgerechnet unter einer Regierung, der man Xenophobie, Europafeindschaft und Isolation vorwirft, muß man konstatieren: Italien ist zurück auf dem Parkett der Weltpolitik.