© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Den „eigenen Grenzwächter“ verurteilt
EU und Ungarn: Nach dem Votum gegen die Politik der Orbán-Regierung gibt es nicht nur Gewinner / Pyrrhussieg für die EVP
Curd-Torsten Weick

Großer Jubel auf der linken Seite des EU-Parlament. Die linksgrüne niederländische EU-Abgeordnete Judith Sargentini – typisch im grünen Sweatshirt – zeigte sich gerührt und wurde von ihren Fraktionskollegen geherzt: „Ich bin so stolz darauf, daß mein Ungarn-Bericht die Unterstützung des Europäischen Parlaments bekam“, twitterte sie kurz nach der Entscheidung am vergangenen Mittwoch. 448 EU-Abgeordnete hatten ihrer 24 seitigen Abrechnung mit Ungarn zugestimmt. 197 votierten dagegen – laut EU-Parlament war damit eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Das Parlament fordert somit den Europäischen Rat auf, ein Strafverfahren nach Artikel 7, Absatz 1 EU-Vertrag gegen das osteuropäische Land zu eröffnen. 

Orbán rückte keinen Deut von seiner Position ab 

Konkret sieht der Sargentini-Bericht „schwerwiegende Verletzungen der EU-Werte“. Er kritisiert die Funktionsweise des ungarischen Verfassungs- und Wahlsystems, er klagt über Korruption sowie Interessenkonflikte und sieht die Unabhängigkeit der Justiz, die Privatsphäre und den Datenschutz, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die akademische Freiheit, die Religions- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Gleichbehandlung, die Minderheitenrechte, die Grundrechte von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen sowie  soziale Rechte in Gefahr.

EU-Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker hatte die Einleitung eines entsprechenden Verfahrens gegen Ungarn unterstützt. Nach langem Zögern sah dies ebenso Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), der auch Viktor Orbáns Fidesz angehört. Weber hatte für die Abstimmung den Fraktionszwang aufgehoben, da es innerhalb der EVP-Fraktion keine Einigkeit in bezug auf die Verletzung von EU-Werten durch Ungarn gegeben hatte.

 114 EVP-Abgeordnete folgten Weber, der sich entsetzt darüber gezeigt hatte, daß Orbán in seiner Rede vor dem Parlament keinen Schritt in Richtung seiner EVP-Partner gemacht und deren Bedenken nicht berücksichtigt habe. Dennoch, so Weber, werde die EVP den Dialog aufrechterhalten und Europa weiter zusammenbringen: „Der Dialog sollte in den kommenden Wochen und Monaten beginnen und nicht enden.“ 

Sorgen bereitet dem Landshuter nicht nur Orbán, sondern auch der Zustand seiner Fraktion. Denn ein Drittel, genauer 57 Stimmen – davon der Großteil aus Bayern, Bulgarien, Kroatien, Rumänien, Tschechien, Slowenien und der Slowakei – folgten Webers Kurs nicht. 

Ohne Rücksicht auf Verluste hatte der Ungar seine Brüsseler Rede begonnen:      „Ich weiß, daß Sie Ihren Standpunkt bereits eingenommen haben. Ich weiß, daß die Mehrheit von Ihnen für den Bericht stimmen wird. Ich weiß auch, daß mein Redebeitrag Ihre Meinung nicht ändern wird. Ich bin dennoch hier zu Ihnen gekommen, weil Sie jetzt nicht eine Regierung, sondern ein Land und ein Volk verurteilen werden.“

Jedes EU-Land, so der Premier weiter, habe das Recht, zu entscheiden, wie es sein eigenes Leben in seinem eigenen Land einrichte. Ungarn verteidige seine Grenzen. Man habe einen Zaun errichtet und Hunderttausende illegaler Migranten aufgehalten: „Wir haben Europa verteidigt. Der heutige Fall ist der erste in der Geschichte der EU, daß eine Gemeinschaft ihre eigenen Grenzwächter verurteilt.“ Überhaupt, so Orbán, enhalte der Bericht 37 schwere Sachfehler. 

Kurz darauf erklärte dessen Kanzleramtsminister Gergely Gulyás, daß der Sargentini-Bericht nicht mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit verabschiedet worden sei. Nach dem EU-Vertrag  hätten die Stimmenthaltungen Berücksichtigung finden müssen. Solange diese Rechtsfrage – der EU-Ausschuß für konstitutionelle Fragen hatte das Prozedere so festgelegt – nicht geklärt sei, bleibe der Bericht ohne jegliche Rechtsfolgen. 

Zurück bleiben: ein unbeugsamer Orbán, der nicht vorhat, die EVP selbst zu verlassen; ein angeschlagener Pyrrhussieger Weber, der auf seinem Weg zum Kommissionspräsidenten mehr und mehr Steine aus dem Weg räumen muß, sowie eine in ihrem Ungarn-Unmut bestätigte Sargentini, die ihr Mandat im EU-Parlament aufgibt, um sich „anderen nützlichen Dingen“ zu widmen. 

Doch „ganz abgesehen davon, daß der Stimmrechtsentzug Ungarns, auf den die ganze Prozedur ja hinauslaufen soll, in Anbetracht des absehbaren polnischen Vetos ohnehin keine Chance hat“, rät der Chefredakteur und Herausgeber der Budapester Zeitung, Jan Mainka, zu mehr Gelassenheit.