© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Tote weiße Möwen auf der grünen Wiese
Das Leben denkbar machen: Nachruf auf den Publizisten und Schriftsteller Ulrich Schacht
Günter Zehm

Der Tod fällte ihn aus dem Hinterhalt. Die Bestürzung derer, die ihn liebten und verehrten, respektierten und bewunderten, ist nicht zu ermessen. Warum denn schon jetzt? So fragen sie schreiend und anklagend. Warum denn ohne jegliche Ankündigung kommenden Unheils? Wie kann Gott es zulassen, daß einer wie Ulrich Schacht sterben muß, ohne auch nur die geringste Zeit dafür zu bekommen, sich darauf vorzubereiten, seine irdischen Dinge zu ordnen, der Ewigkeit  ins Auge zu sehen, sich von seiner geliebten Frau und von seinen Freunden zu verabschieden. Ulrich Schacht starb vergangenen Sonntag, im Sessel sitzend sein geliebtes Meer nicht weit entfernt, an den Folgen eines Herzinfarkts.

Dabei war er die Inkarnation des Lebens schlechthin. Seine Gedichte kreisen alle darum, die Stimme der Lebendigkeit  vernehmbar zu machen, sie getreulich in Worte zu gießen und glaubhaft abzubilden. „Platon denkt ein Gedicht“, heißt einer seiner Lyrikbände, und genau dies war die Absicht des Dichters Schacht: das Leben denkbar zu machen, ohne seiner Pracht und seinem Geheimnis zu nahe zu treten. Seine Gedichte sind den japanischen Haikus verwandt, jener primären Gestalt fernöstlicher Lyrik, die ebenfalls aus der Natur keinen bloßen Roman macht, nicht schlicht von Naturphänomenen „erzählen“ will, sondern der es darum geht, selber Natur zu werden.

Er wurde zu sieben Jahren DDR-Zuchthaus verurteilt

Aber Schacht war nicht nur Naturlyriker, er war von Anfang an auch ein leidenschaftlich politisch Denkender, der sich völlig ungeniert in die Händel des Tages einmischte und mit eigenen Gebrauchsanweisungen, auch kritischen Bosheiten nicht sparte; das eine schloß das andere nicht aus, im Gegenteil. Gute Politik, so Schachts Überzeugung, hat sich als eine Art Naturprodukt inklusive entschiedener Moralität auszuweisen. Sie muß lebensnah, transzendenzhaltig und „konkret“ sein und sowohl von bloßen Phrasen wie von persönlichen Vorteilsnahmen und korruptivem Gebaren völlig frei gehalten werden.

In diesem Belang war Schacht, der ansonsten für versöhnliche Gesten und ausgleichende Verhandlungen durchaus zu haben war, schon von frühester Jugend an gänzlich unabänderbar. Das bekamen alle Regierungen zu spüren. Geboren wurde Schacht am 9. März 1951 im DDR-Frauengefängnis in Hoheneck im Erzgebirge. Ein hoher Offizier der sowjetischen Besatzungsmacht im mecklenburgischen Wismar hatte sich in ein dortiges Mädchen aus gutem Hause verliebt, die Liebe wurde erwidert, und ihr entsprang das Söhnchen Ulrich. Der Offizier wurde daraufhin nach Sibirien strafversetzt, die Mutter verschwand für Jahre im Zuchthaus Hoheneck. Jahrzehnte später wird Schacht sich auf die Suche nach seinem russischen Vater begeben und darüber ein bewegendes Buch schreiben („Vereister Sommer“, JF 33/11).

Schacht wuchs bei Verwandten der Mutter auf, studierte nach Oberschulabschluß an der Universität Rostock und in Erfurt Evangelische Theologie – und wurde vom kommunistischen Regime 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. 1976 wurde er von der Bunderepublik freigekauft und in den Westen entlassen. Fortan war Ulrich Schacht „ein Gezeichneter“, so die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, mit einer „sehr dezidierten Meinung über linke Gesellschaftsexperimente“.

In Hamburg studierte er dann Politische Wissenschaften und Philosphie. Währenddessen fiel sein Schreibtalent Zeitungen und Verlagen schnell auf. Schacht wurde Kulturreporter und Kommentator der Welt am Sonntag; zudem schrieb er als Autor für diverse Magazine und Zeitungen, darunter auch die JUNGE FREIHEIT. Für große Resonanz sorgte 1994 der von ihm zusammen mit seinem Springer-Kollegen und Freund Heimo Schwilk herausgegebene Sammelband „Die selbstwußte Nation“, dem drei Jahre mit „Für eine Berliner Republik“ ein weiterer folgte.

1998 zog es Ulrich Schacht nach Schweden in die Nähe von Lund, wo er bis zuletzt Lyrik, Erzählungen und zahlreiche scharf erhellende politische Essays veröffentlichte. Der Umzug nach Schweden kam nicht von ungefähr und ist keinesfalls als „politischer Rückzug“ aus allzu erbärmlichen neudeutschen Verhältnissen zu deuten. Schacht liebte die nordischen Gefilde, ihre langen, eisigen Winter, ihre erruptiv anbrechenden Frühlinge, ihre kurzen, lichtdurchfluteten Sommertage. Er verstand es – wie er selbst einmal sagte –, sich am Eise zu wärmen. Außerdem liebte er das Inseldasein, dem er in Schweden so nahe war und das ihm ausführliche wie kurzfristige Ausflüge nach Island, auf die Faröer oder die Lofoten ermöglichte.

Schlimmste Verfolgungen, unendliche Demütigungen

Seine wohl beste Novelle, „Grimsey“, legt davon Zeugnis ab. Die kleine Insel Grimsey, ein Eiland von knapp fünf mal sieben Quadratkilometern im arktischen Meer nördlich von Island, hat in der Erzählung von Schacht das deutsche Lesepublikum über alle Spezial-Geschmäcker und Vorlieben hinweg regelrecht bezaubert. Und dabei gibt es nichts, was äußerlich zu Zauber und Begeisterung einlüde. Dreihundert menschliche Bewohner in schlichten, bescheidenen Häuschen, eine Kirche, ein Kaufladen, ein (gar nicht hoher) Leuchtturm, Möwenschreie, Meeresrauschen, ein kleiner Hafen.

Und Ulrich Schacht tut nicht das Geringste, um den Kasus in irgendeiner Richtung aufzupeppen. Er ist als Tourist gerade mal für einen Tag von Island herübergekommen und wandert das Gelände ab, begegnet einem kleinen Jungen, der in einer Straßenpfütze herumpatscht, ist erschrocken über einige tote Möwen, die „wie schneeweiße Handtücher“ auf der grünen Wiese herumliegen. Am späten Nachmittag geht es wieder zurück nach Island.

Was aber die Faszination dieses Textes ausmacht, der seinerzeit viel Aufmerksamkeit erregte, war der Ich-Erzähler, ein Fotograf, der üblicherweise „Bilder schießt“.  Sein eher zufälliger Aufenthalt auf Grimsey macht ihm nun plötzlich bewußt, daß gerade sein geliebtes und sonst so einträgliches „Bilderschießen“ auf Grimsey gar nicht stattfinden kann. Künftig gilt: Schachts Alter ego bildet von da an nirgendwo mehr etwas einfach ab, weder nach außen noch nach innen;  vielmehr findet seine Sprache auf Grimsey, ob er nun nach außen oder nach innen blickt, einen Duktus, den man spontan am ehesten als ein „Schreiten über den Wassern“ bezeichnen würde. Es ist ein richtiges Wunder, aber äußerst glaubhaft dargestellt, eben ein literarisches Meisterwerk. 

Es ist nicht so, daß der Schriftsteller/Fotograf nach diesem Erlebnis nun nichts Hochdramatisches, Erschreckendes und Existenzvernichtendes mehr zu dokumentieren hätte; wir begegnen ihm weiterhin bei schlimmsten Verfolgungen, Foltern, unendlichen Demütigungen. Doch merkwürdig: Je gräßlicher das reale Phänomen, um so gelassener, gleichsam mathematischer die Sprache, in der es aufscheint und seinen Widerpart findet.

Nicht die Spur von Schönrednerei ist da, zu schweigen von zynischer Gleichgültigkeit. Es gibt indessen auch keinerlei modisches „Engagement“, keinerlei  Verabredungsgestus für Gutmenschen.

 Die Sprache des Grimsey-Entdeckers Ulrich Schacht spricht gleichsam einzig für sich selbst, und dabei entsteht zwischen dem in der Pfütze patschenden Jungen auf der Insel und den eigenen Jugenderinnerungen des Autors eine ungeheure Identität, während sein erschrockener Blick auf die toten weißen Möwen auf der blühenden grünen Wiese sich wie von selbst deckt mit erinnernden Blicken auf Zuchthausfriedhöfe des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Grimsey am nördlichen Polarkreis ist eine sehr stille Insel, und auch die Sprache von Schachts Novelle ist eine sehr stille Sprache, selbst dann, wenn es um die dramatischsten Situationen geht. Das Paradox ist erlaubt und wurde vom Autor manchmal sogar bewußt angepeilt. Wir lernen aus der Lektüre seiner Bücher, Reden und Artikel, daß seelische Gelassenheit und in jeder Hinsicht disziplinierte Sprache die beste Orientierung füt gute Literatur wie auch ordentliche Politik sind. Vielleicht liegt darin eine Spur von Trost angesichts der Trauer über den jähen Tod des Dichters Ulrich Schacht. 





Ulrich Schacht in der JF

Seit Mitte der neunziger Jahre war Ulrich Schacht der JUNGEN FREIHEIT in vielfältiger Weise verbunden, sowohl als gelegentlicher Autor wie auch als Gesprächspartner. 2006 unterstützte er unseren Appell für die Pressefreiheit, der sich gegen die Ausladung der JF von der Leipziger Buchmesse richtete. Seinen letzten Auftritt in dieser Zeitung hatte er im Februar dieses Jahres in einem großen Interview zur Wirkung des vor 25 Jahren erschienenen Essays „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß (JF 6/18).