© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

„Die Fühlung zur Nation fehlt“
Das Kapital, die Nation und die Linke: Ein Essay zum Verhältnis von Nord- und Südeuropa
Thomas Bargatzky

Im Teatro Massimo zu Palermo. In einer Pause komme ich mit einem Herrn in der Reihe vor mir ins Gespräch. „Sizilien wurde immer von Fremden erobert und beherrscht“, sagte er: Griechen, Karthager, Römer, Araber, Normannen, Staufer, Franzosen, Spanier und seit 1861 das piemontesische Haus Savoyen, das die Könige des modernen Staates stellte. „Heute beherrscht uns die EU“, setzte er, ein wenig verlegen, hinzu.

Piemont als fremde Macht? „Sizilien ist nicht Italien“, schreibt die Reiseschriftstellerin Dagmar Nick. Wer sich auf diese Insel einläßt, mit ihrem Gemisch vieler Kulturschichten, dem Produkt ihrer mehrtausendjährigen Geschichte von Eroberung, Zerstörung und Selbstbehauptung, wird ihr zustimmen. Ein bedeutender italienischer Essayist, Philosoph und politischer Schriftsteller verstand Sizilien gar als eigene Nation. So schrieb er 1918: „Fünfzig Jahre der staatlichen Einheit sind zum großen Teil von unseren Politikern dazu benutzt worden, das äußere Bild einer italienischen Einheit zu schaffen: die Regionen hätten in der Nation aufgehen sollen, die Dialekte in der Literatursprache. Sizilien ist die Region, die am aktivsten dieser Vergewaltigung der Geschichte und der Freiheit widerstanden hat. Bei vielen Gelegenheiten hat Sizilien bewiesen, daß es ein Leben führt, das mehr eigenen Nationalcharakter als regionalen Charakter besitzt.“ 

Intellektuelle haben sich vom Volk gelöst

Unser Schriftsteller übt auch scharfe Kritik an den Intellektuellen seiner Zeit, die die Politiker bei ihrer „Vergewaltigung der Geschichte und der Freiheit“ unterstützten, weil ihnen „die Fühlung zur Nation, zum Volk fehlt“. Er beklagt die „Loslösung der italienischen Intellektuellen von der volkstümlich-nationalen Identität“. Antonio Gramsci, der Verfasser dieser Zeilen, war von 1924 bis 1927 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens. 1926 auf Veranlassung der faschistischen Regierung inhaftiert, wurde er erst kurz vor seinem Tod am 27. April 1937 offiziell in die Freiheit entlassen. In der Haft verfaßte er seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches Werk, das in einer Fülle von Abhandlungen seine Position zu Fragen der Kultur, Literatur, dem Theater und der Geschichte der politischen Einigung Italiens („Risorgimento“) darlegt. 

Die kommunistische Herrschaft in Europa ist vergangen, aber das ist kein Grund, sich nicht mit dem Werk Gramscis auseinanderzusetzen. Es enthält Einsichten, die gerade in der gegenwärtigen Krise der italienischen Politik und des europäischen Einigungsprozesses ob ihrer Aktualität Staunen erregen. So schreibt er beispielsweise zum Verhältnis zwischen Nord- und Süditalien: „Das ‘Elend’ des Südens war für die Volksmassen im Norden historisch ‘unerklärlich’. Sie verstanden nicht, daß die Einheit nicht auf einer Basis der Gleichheit, sondern was das territoriale Verhältnis zwischen Stadt und Land betraf, in der Form einer Hegemonie des Nordens über den Süden zustande gekommen war, daß also der Norden tatsächlich ein ‘Polyp’ war, der sich auf Kosten des Südens bereicherte, und daß sein wirtschaftlich-industrielles Wachstum im direkten Verhältnis zu der Verarmung der Wirtschaft und Landwirtschaft des Südens stand“.

In der Ideologie der Bourgeoisie sei der Süden die „Bleikugel“, die schnellere Fortschritte in der zivilisatorischen Entwicklung Italiens verhindert. Die Menschen des Südens würden als biologisch minderwertige Wesen dargestellt. Nicht das kapitalistische System oder irgendeine andere geschichtliche Ursache trage die Schuld an der Rückständigkeit des Südens, „sondern die Natur, die die Südländer als Faulpelze, Dummköpfe, Verbrecher und Barbaren geschaffen hat“.

Südeuropäern wird mit Vorurteilen begegnet

Solche Abwertungen der südlichen Länder Europas findet man auch heute nördlich der Alpen. Den Südeuropäern wird immer noch mit Vorurteilen begegnet, und auf der gesamteuropäischen Ebene wollen vor allem nordeuropäische Intellektuelle die nationalen Unterschiede in Europa zugunsten einer künstlichen – europäischen – Identität auflösen. Europa ist ihr Mega-Italien, dessen Fortschritt durch die „faulen“ Italiener, Spanier, Griechen usw. behindert wird.

Gero Jenner (Eurosklerose, 2015) beschreibt, wie die Europäische Union den Ländern des Südens gleichsam als fremde Macht gegenübertritt. Da mit Ausnahme des italienischen Nordens der Süden Europas weitgehend von der Landwirtschaft abhängig ist, wird ein ausgeprägter Agrarprotektionismus betrieben, um diese Länder an die EU zu binden. Deutschland, einer der größten industriellen Exporteure, muß zwar auf den Schutz seiner Landwirtschaft weitgehend verzichten, es kann jedoch Industrieprodukte in Europa absetzen, wenn es im Gegenzug Agrarprodukte importiert. Der Schutz nach außen ist für Deutschland hinsichtlich seiner Industrieprodukte jedoch entbehrlich, solange es seine Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt durch Innovationen und niedrige Preise aufrechterhält.

Gramscis Kritik am italienischen Norden spiegelt sich in der Analyse der „Griechenland-Rettung“ des Wirtschaftswissenschaftlers Friedrich Romig (ESM – Verfassungsputsch in Europa, 2012). Darin liegt eine gewisse Pikanterie, denn Romig gehört einem ganz anderen politischen Lager an als seinerzeit Gramsci. Dem Vorgehen der „Troika“ aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission liegt der sogenannte „Washington Consensus“ zugrunde, ein Programm zur Förderung von Wachstum und wirtschaftlicher Stabilität, das vom US-Finanzministerium gemeinsam mit den in Washington ansässigen Institutionen IWF und Weltbank unterstützt wird.

Damit sind jene in die Kritik geratenen Austeritätsmaßnahmen zur „Strukturanpassung“ verbunden, die verschuldete Staaten immer weiter in die Krise führen, statt ihnen bei deren Bewältigung zu helfen: die Gewährung von Krediten und im Gegenzug die Kürzung der Staatsausgaben, der Abbau von Handelsbeschränkungen, die Deregulierung von Märkten und Preisen, die Abschaffung von Subventionen für Nahrungsmittel, Treibstoff und andere Grundbedarfsartikel, die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und der Infrastruktur, ferner Lohnkürzungen, die Entlassung von Staatsbediensteten, die Kappung der Pensionen, die Heraufsetzung des Pensionsalters, die Einschränkung und Verteuerung der Gesundheitsvorsorge, die Verringerung der Familienbeihilfen. 

Die Finanzspritzen zur „Rettung“ Griechenlands retten nicht Griechenland, sondern zerstören es durch die Fortschreibung seiner Verschuldung, die ständig durch neue, an weitere Austeritätsmaßnahmen gebundene Kredite auf Dauer gestellt wird. Auch auf gesamteuropäischer Ebene ist der Norden der „Polyp“, dessen wirtschaftlich-industrielles Wachstum im direkten Verhältnis zur Verarmung des Südens steht, auch wenn wegen der Millionen, die in die Euro-Rettung gepumpt werden, das Gegenteil der Fall zu sein scheint. Diese Millionen kommen aber nicht bei den Menschen des Südens an, sondern bei den Banken.

Die Europäische Union soll zentralisiert werden

Da solch ultraliberale Wirtschaftsprogramme sich politisch auf die Dauer nicht durchsetzen lassen, muß die Abschaffung der Souveränität der europäischen Staaten vorangetrieben werden. Der Hauptakteur dabei ist die EU. Peter Sutherland gab 2012 in einem Interview mit der BBC zu Protokoll, daß es ihre Aufgabe ist, die nationale Homogenität ihrer Mitgliedsstaaten zu „unterminieren“. Als Teilnehmer an den Treffen der Bilderberger und nicht-geschäftsführender Direktor des weltweit tätigen Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmens Goldman Sachs weiß er, wovon er spricht. Viele herausragende Akteure der europäischen Politik- und Bankenwelt, die im Sinne des transnationalen Kapitals wirken, waren oder sind Mitarbeiter von Goldman Sachs. Troika-Mitglied und Präsident der EZB Mario Draghi war von 2002 bis 2005 Geschäftsführender Direktor von Goldman Sachs International, Troika-Mitglieder Christine Lagarde und Poul Mathias Thomsen repräsentieren den IWF.

Dies ist die Realität hinter der Parole „Mehr Europa wagen“. Antonio Gramsci warf seinerzeit den italienischen Intellektuellen vor, sich vom Volk gelöst zu haben und die Bedürfnisse von eigenständigen Nationen wie Sizilien und Sardinien innerhalb des neuen Staates nicht zu verstehen. Diese Lage wiederholt sich heute auf gesamteuropäischer Ebene, wenn die Anhänger eines europäischen Gesamtstaates die Sorgen der Bürger der einzelnen Länder mit Vorwürfen wie „Populismus“ und „dumpfer Nationalismus“ abtun. 

Václav Klaus, der frühere Präsident der Tschechischen Republik, kritisiert die immer stärkere Zentralisierung der Souveränitätsrechte der einzelnen Staaten der EU durch ihre Übertragung auf die Brüsseler Bürokratie. Und mit Europismus bezeichnet er eine Ideologie, die die einzig mögliche Zukunft Europas in einer immer zentralisierteren Europäischen Union sieht, die alle Lebensbereiche reguliert. Der Europismus schaffe postdemokratische, bürokratische Strukturen, die unsere Leben mehr und mehr bestimmen und begrenzen.

Eine der bizarren mentalen Verwerfungen der Zeitenwende nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Umpolung grundlegender Sichtweisen und Wertehaltungen, beispielsweise das Selbstverständnis bezüglich „rechter“ und „linker“ Positionen. Dies wird am Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen deutlich, für das die Linke noch bis 1990 eintrat. Heute sind es die „Rechten“, die sich für diese Werte einsetzen, wogegen sich die Propagandisten des Europismus und der mit ihm verbundenen transnationalen Wirtschaftsinteressen als politisch linksstehend verorten. Das Werk Antonio Gramscis hilft uns dabei, diesen Anspruch zu entlarven.






Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte bis 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth.