© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Das Unmögliche immer im Blick
Der Historiker Tom Segev präsentiert eine ebenso kritische wie detaillierte Biographie David Ben Gurions, des Motors der israelischen Staatsgründung
Michael Dienstbier

Wozu existieren Mythen? Um zertrümmert zu werden! Seit mittlerweile drei Jahrzehnten orientiert sich der israelische Historiker Tom Segev an diesem Ideal und wird dafür in seinem Land entweder als mutige Lichtgestalt der Aufklärung verehrt oder als Vaterlandsverräter verachtet. Denn es sind die Mythen des Staates Israel, denen Segev – zusammen mit anderen Vertretern der sogenannten „Neuen Historiker“ wie Benny Morris oder Avi Shlaim – den Kampf angesagt hat. Die Araber? Wurden vertrieben und haben Palästina mitnichten freiwillig verlassen. Der stockende Friedensprozeß? Schuld der Israelis, nicht der arabischen Welt. 

Rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Ausrufung des Staates Israel hatte Segev seine lang erwartete Biographie über David Ben Gurion vorgelegt, die das Bild des über die Parteigrenzen hinweg verehrten Staatsgründers in seinen Grundfesten erschüttert.

Er konnte niemanden neben sich gelten lassen

Gegen Ende schreibt Segev, Ben Gurion sei ein „israelischer König Lear“ gewesen. Und in der Tat erschafft der Autor eine in ihrer Besessenheit und inneren Zerrissenheit literarisch anmutende Figur, die jedes Drama Shakespeares veredelt hätte. Seine Religion, der er bis zu seinem Tod treu geblieben ist, war der Zionismus. 1886 im polnisch-masowischen Plonsk im Russischen Zarenreich geboren, zog es ihn 1906 ins damals zum Osmanischen Reich gehörende Palästina, um als einer der ersten an Theodor Herzls Traum der Errichtung einer „jüdischen Heimstatt“ mitzuwirken. 

Als bestens vernetzter Gewerkschafter etablierte er sich über die Jahre als einflußreicher Ansprechpartner für die Mächtigen der Welt, als mit der Balfour-Deklaration 1917 (JF 44/17) die Gründung eines jüdischen Staates Realität zu werden schien. Gnadenlos bekämpfte er seine Konkurrenten, er, der – so Segev – niemanden neben sich gelten lassen konnte. Chaim Weizmann, dem Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, neidete er dessen Ansehen und Erfolge. Auch schreckte er nicht davor zurück, den politisch rechts stehenden Zionisten Wladimir Jabotinsky mit Hitler zu vergleichen. Wutausbrüche und das persönliche Diffamieren seiner Opponenten seien typische Merkmale seines Charakters gewesen.

Die Bedingungslosigkeit, mit der Ben Gurion sein stetiges Ziel, die Gründung und Sicherung des Staates Israel, verfolgte, verdeutlicht Segev exemplarisch an zwei Beispielen. Als er von den Dimensionen des NS-Judenmordes erfuhr, war er schockiert und voller Wut, aber nicht zuerst aus humanitären, sondern aus politischen Gründen. Rückblickend notierte er 1964 in sein Tagebuch: „Mehr noch als am jüdischen Volk, das er kannte und haßte, hat Hitler sich an dem jüdischen Staat versündigt, dessen Entstehung er nicht vorhersah.“ Des weiteren war für ihn die Vertreibung der arabischen Bevölkerung während und nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49 alternativlos. Niemals würde die arabische Welt einen jüdischen Staat in Palästina akzeptieren, niemals könne man sich auch nur den Anschein von Schwäche erlauben. Das von Ben Gurion auf diesen Prämissen gegründete Konzept der „aggressiven Verteidigung“ umfasse auch die systematische Vertreibung oder Vernichtung von Ortschaften, die nicht zu kontrollieren waren, führt Segev aus und charakterisiert dessen Vorgehen als eine Mischung aus „Politik, Diplomatie und Terror“.

Seit siebzig Jahren ist der bedingungslose Wille zur nationalen Selbstbehauptung elementarer Bestandteil der israelischen DNS. Nie wieder Opfer sein, sich nie wieder wehrlos zur Schlachtbank führen lassen – diese Entschlossenheit prägt das israelische Volk bis heute. Am 19. Juli 2018 stimmte die Knesset für das „Nationalitätengesetz“, das Israel als jüdischen Staat definiert und die jüdische Mehrheitsbevölkerung privilegiert, ohne der arabischen Minderheit ihre Grundrechte abzusprechen – ein Beschluß ganz im Geiste Ben Gurions. In der deutschen Medienlandschaft wird das Gesetz einhellig mit dem Attribut „umstritten“ versehen, und einige linke Publikationen sehen die Entwicklung Israels zu einem Apartheidstaat nun endgültig vollendet. 

Politik Israels als Antithese zum deutschen Zeitgeist

Diese Reaktion ist in sich schlüssig, betreibt Israel doch eine Politik, welche die Antithese zum deutschen Zeitgeist darstellt: nationale Souveränität statt offener Grenzen, jüdische Identität statt einer imaginären „Buntheit“, der Primat des Politschen statt des Primates der „Moral“. Es spricht für Segev, daß er sich trotz seiner kritischen Grundhaltung Ben Gurion gegenüber um ein differenziertes Urteil bemüht. Er war Narzißt und Idealist, Diplomat und Krieger, vielgereister Weltbürger und nationalistischer Zionist – in aller ihrer Widersprüchlichkeit eine große historische Persönlichkeit.

Sechs Jahre hat Segev an seinem neuen Buch gearbeitet, und diese Mühe hat sich gelohnt. In weiten Teilen basierend auf Ben Gurions umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen, Briefkorrespondenzen und internen Protokollen – einige Dokumente standen erstmalig der Forschung zur Verfügung –, gelingt dem Autor eine packende Rekonstruktion einer schillernden Figur als maßgeblicher Akteur einer bewegten Epoche, die für jeden aufmerksamen Leser umfassende Erkenntnisgewinne bereithält.

Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis. Siedler Verlag, München 2018, gebunden, 800 Seiten, Abbildungen, 35 Euro