© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

„Mich kann das nicht überzeugen“
Asylbewerber und Asylberechtigte wandern in der EU trotz Residenzpflicht unkontrolliert von Land zu Land. Was kann gegen das „Sekundärmigration“ genannte Problem getan werden? Fragen an den ehemaligen Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig
Moritz Schwarz

Herr Professor Schmidt-Jortzig, halten Sie die Residenzpflicht für Asylbewerber für eine sinnvolle Regelung? 

Edzard Schmidt-Jortzig: Lassen Sie mich, bevor ich darauf antworte, noch etwas Grundsätzliches klären. 

Und zwar?

Schmidt-Jortzig: Es geht mir um den Grund, weshalb überhaupt der Migrationsdruck auf Europa und seine Auswirkungen auf Deutschland inzwischen wohl zum gravierendsten Problem der Politik und zu einem zentralen Streitpunkt der öffentlichen Diskussion geworden sind. 

Das ist doch klar: wegen der enormen Zahl an Asylantragstellern.

Schmidt-Jortzig: Ja, aber mir geht es um einen anderen Aspekt – in bezug auf unser Interviewthema Sekundärmigration –, den wir zuvor klären sollten: nämlich, daß die Offenheit der Binnengrenzen, Stichwort: Schengen, zweifellos eine der Haupterrungenschaften der EU ist. Sie hat allerdings zur Voraussetzung, daß die Außengrenzen gesichert sind beziehungsweise die Einwanderung fremder Personen in die EU ebenso effektiv kontrolliert wird, wie es auch jeder Einzelstaat täte, um seine territoriale Integrität zu schützen. Es ist immerhin eine Grundaufgabe und überhaupt Legitimationsfaktor des Staates, für seine Bevölkerung die Gedeihlichkeit der Lebensverhältnisse und die Friedlichkeit des Zusammenlebens zu gewährleisten. 

Sie meinen, und dazu gehört, über den Zuzug ins Hoheitsgebiet zu entscheiden?

Schmidt-Jortzig: Eben. Und eine Übertragung dieser Kompetenz auf eine supranationale Instanz wie die EU läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn dort eine gleich wirksame, jetzt freilich großformatige Beherrschung der Migration sichergestellt ist. Und weil man irgendwie das Gefühl hat, daß diese Zusammenhänge beziehungsweise ihr Funktionieren in Unordnung geraten sind, hat sich hieran eine ebenso grundsätzliche wie emotionale Auseinandersetzung entzündet.

Klar. Aber was halten Sie nun von der Residenzpflicht für Asylbewerber? 

Schmidt-Jortzig:  Die halte ich grundsätzlich für sinnvoll, denn bevor ein Fremder als asylberechtigt gilt und also auch innerhalb unseres Staatsgebietes aufenthalts- und reiseberechtigt wird, muß sich der aufnehmende, sprich der das Asylverfahren betreibende Staat alle Kontrollmöglichkeiten vorbehalten. Dem dient die Residenzpflicht. Daß sie in Deutschland von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich angewandt beziehungsweise durchgesetzt wird, ist in einem föderal gegliederten Staatswesen wie unserem nicht zu verhindern.

Warum aber dürfen Asylbewerber trotz Residenzpflicht während ihres Asylverfahrens von einem EU-Land in ein anderes umziehen – wodurch ja erst das Problem der sogenannten Sekundärmigration innerhalb der EU entsteht? 

Schmidt-Jortzig: Daß Asylbewerber – wir sprechen hier also nicht von bereits Asylberechtigten – sich in Europa offenbar frei bewegen, liegt daran, daß die Dublin-Verordnungen dies nach vieler Leute Meinung leider nicht verbieten. Dabei ist es unter den Experten umstritten, ob das geltende europäische Rechtsregime innereuropäische Reisefreiheit für Asylbewerber akzeptiert. Mich kann das nicht überzeugen, denn es widerspricht meines Erachtens mindestens dem Sinn des Dublin-Systems. Danach soll ja ein geordnetes, gleichförmiges und geschlossenes Asylverfahren in Europa erreicht werden. Die Uneinigkeit über eine Beibehaltung beziehungsweise Wiederherstellung und Reform der Dublin-Ordnung verhindert aber auch hier derzeit eine Klarstellung.

Im Koalitionsvertrag wird die Sekundärmigration nur weit hinten und nur sehr kurz erwähnt. Unterschätzt die Regierung das Problem? 

Schmidt-Jortzig: Daß sie nur relativ marginal auftaucht, lag wohl eher daran, daß die beteiligten Parteien sich bei den Koalitionsverhandlungen schon ohne dieses Thema hinreichend „verkämpft“ hatten. Hinsichtlich der Asylbewerber ist es ja schon deshalb relevant, weil eine rechtskräftige Ablehnung des Anerkennungsantrags eben nicht auch die Ausreise des Bewerbers garantiert. Und hinsichtlich der Asylberechtigten hat die – sekundäre – Wanderungsbewegung mindestens eine Verstärkung von unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen zur Folge, wie wir sie in Deutschland ja bereits durch die bekannten Ost-West-, die Nord-Süd- oder die Land-Stadt-Bewegungen kennen und die dann ein Problem für die Strukturpolitik oder den Finanzausgleich sind.    Im übrigen kommt der Sekundärmigration aber auch eine gewisse Symbolbedeutung zu, weil sie an die Fähigkeit unseres Staates rührt, das Migrationsgeschehen überhaupt im Griff zu haben. Eine Unterschätzung dieses Themas wäre daher bedenklich.

Sie sprechen es eben an: Zur Sekundärmigration gehört neben dem Umzug von noch im Asylverfahren befindlichen Asylbewerbern auch der von anerkannten Asylbewerbern, also Asylberechtigten, von EU-Land zu EU-Land. Wieso kann man diese Asylberechtigten nicht dazu verpflichten, in dem Land zu bleiben, in dem sie Asyl erhalten haben?

Schmidt-Jortzig: In einem geschlossenen und funktionierenden EU-Asylrechtssystem wäre nach meinem Dafürhalten die Freizügigkeit für anerkannte Asylbewerber akzeptabel und folgerichtig. Solange aber nicht sichergestellt ist, daß Asylentscheidungen von allen EU-Mitgliedern nach gleichen Maßstäben getroffen und deshalb untereinander auch voll anerkannt werden, kann eine entsprechende Reisefreiheit kaum zufriedenstellen. 

Warum halten Sie das unter Umständen für „akzeptabel und folgerichtig“? Dann eben entsteht doch das Problem der Sekundärmigration, das wir doch verhindern wollen. 

Schmidt-Jortzig: Nach meinem Verständnis ist für uns das Versprechen der Verfassung, wonach „politisch Verfolgte Asylrecht genießen“, so substantiell gemeint – und sollte es auch sein –, daß das „Asyl“ ein Künftig-hier-leben-Können wie die anderen, die staatszugehörigen Einwohner meint. Freilich setzt das voraus, daß die Asylberechtigung wirklich besteht, also in einem förmlichen Verfahren nachgeprüft wird und nicht einfach, in lockerer Praxis oder im öffentlichen Diskurs, mit anderen Migrationsgründen vermischt beziehungsweise gleichgesetzt wird. Ledigliche Bewerber um das Asylrecht haben jedenfalls noch keinen Anspruch auf den verfassungsrechtlich zugesicherten „Genuß“.

Wieso leitet sich aus gewährtem Asyl in einem EU-Land überhaupt ein Recht auf Freizügigkeit für die EU ab? Schließlich ist diese Freizügigkeit ein Recht, das die EU-Staaten untereinander für ihre Bürger vereinbart haben. Asylberechtigte sind aber hier keine Staatsbürger und ergo gibt es für sie auch keine EU-Freizügigkeit. 

Schmidt-Jortzig: Asylberechtigte sind zwar noch nicht automatisch EU-Bürger. Aber wenn ihre Asylrechtsanerkennung in allen EU-Staaten nach den gleichen strikten Maßstäben gehandhabt wird, dürfen und sollten sie nach meiner Meinung wie solche behandelt werden. Wann ein solcher Idealzustand indes erreicht ist, läßt sich derzeit kaum ersehen. Dann aber vielleicht untragbar werdende Belastungen für einzelne Reiseziel-Staaten könnten diese immerhin noch verwaltungsrechtlich zu steuern versuchen. 

Was ist speziell aus deutscher Sicht das eigentliche Problem der Sekundärmigration?  

Schmidt-Jortzig: Solange in Deutschland Arbeitsmarkt, Sozialsystem, Bildungswesen, medizinische Versorgung etc. – kurz: der Lebensstandard – besser als in anderen Staaten ist, und sei es auch nur in der Vorstellung wanderungsbereiter Menschen, wird es den betreffenden Zuzugsdruck immer geben. Wollen wir uns nicht strikt abschotten – dann aber ginge bald unser Wohlstand verloren –, müssen wir damit umgehen. 

Und gewährleisten die Maßnahmen, auf die sich die Koalition kurz vor der Sommerpause in puncto Sekundärmigration geeinigt hat, dieses „Umgehen“? 

Schmidt-Jortzig: Ob die eingeleiteten Maßnahmen ausreichen oder überhaupt die richtigen sind, wird man erst sehen, wenn und in welcher Form sie tatsächlich umgesetzt werden. Politik, ebenso wie die Verwaltungsrealität, ist immer nur die „Kunst des Möglichen“. Weitergehendes war und ist politisch derzeit offenbar nicht möglich. Und vermutlich wird sich das unter den jetzigen politischen Bedingungen auch nicht ändern.

Die Lösungsvorschläge der Bundesregierung hängen mal wieder davon ab, daß sie sich damit in der EU durchsetzt. Ist das nach Ihrer Einschätzung zu erwarten? Vor allem angesichts dessen, daß die meisten EU-Länder von der Sekundärmigration wohl profitieren, da diese doch überwiegend in Richtung Deutschland und anderer reicher EU-Staaten stattfinden dürfte. 

Schmidt-Jortzig: In der Tat: Alle bisherigen Schritte und Pläne der Regierung, die Problematik in den Griff zu bekommen, hängen (auch) von ihrer Umsetzbarkeit im europäischen Kontext ab. Ob dies jetzt besser gelingt als in den zurückliegenden Jahren – das sehe ich eher skeptisch. Die bisherigen Widerstände und Hindernisse werden sich kaum verflüchtigt haben. Im Interesse europäischer Einheit muß man ein Vorankommen aber immer wieder versuchen. Mindestens im Hinterkopf sollte aber für den Fall des Scheiterns Vorsorge getroffen werden, und für die benötigte Verhandlungszeit gilt das ohnehin. Ich glaube übrigens schon, daß man dafür mindestens beim Bundesinnenministerium bereits gewisse Vorstellungen hat. Aber ob und wie man sie verwirklicht beziehungsweise auf den Tisch legt, hängt wohl auch von den nicht unbedingt sachbezogenen Rahmenbedingungen ab, Stichworte: Umfragewerte, Streiterschöpfung, Bayernwahl.

Eine der Maßnahme zur Bekämpfung der Sekundärmigration ist, Migranten volle Sozialleistungen nur noch in dem EU-Land zu gewähren, dem sie per Asylantrag zugewiesen sind. Immer wieder aber liest man, daß für solche Ausländer das Zusammensein mit ihrer sozialen Gruppe stärkere Anziehungskraft besitzt als Sozialleistungen. Also droht doch, daß viele dennoch hin und her ziehen.

Schmidt-Jortzig: Daß der Erwerb von Sozialleistungsanrechten nicht der allein entscheidende Grund für eine Ansiedlungsentscheidung ist, dürfte wohl zutreffen. Aber er spielt bei der Armut, aus der viele der Migranten kommen, sicherlich mit. Deshalb sollte man versuchen, entsprechende Fehlanreize zu beseitigen. Wie „umgehungssicher“ das dann gelingt und wie wirksam es ist, muß sich zeigen. Daß noch andere Motivationen für soziale Mobilität eine Rolle spielen können, ist selbstverständlich. Auch unter autochthonen Deutschen ist ja beispielsweise die Anziehungskraft früherer Heimatorte, der Hinzug zu Kinderfamilien oder die Altersresidenz mit Gleichgesinnten notorisch. Bei bloßen Asylbewerbern aber kann man das und sollte es regulieren, bei Asylberechtigten nicht. Für sie bleibt es bei den üblichen Paradigmen, mit denen erfolgreiche Strukturpolitik nun einmal umgehen muß. 

Außerdem will die Koalition zur Bekämpfung der Sekundärmigration darauf drängen, daß Asylverfahren künftig „überwiegend an den Außengrenzen“ durchgeführt werden. Dort sollten dann auch „gemeinsame Rückführungen“ erfolgen. Klingt das für Sie vertrauenswürdig?

Schmidt-Jortzig: Die Idee leuchtet im Grunde ein, weil Asylbewerber, die das europäische Binnenland erreicht, ja, überhaupt den EU-Hoheitsbereich einmal betreten haben, egal wie ihr Asylverfahren ausgeht, kaum oder nur sehr schwer wieder expatriiert werden können. Doch ob man solche aufenthaltspflichtigen, außengrenznahen Asylzentren einrichten oder gar exterritoriale Verbleiberäume einrichten kann, ist schon rechtlich umstritten, von ihrer Realistik ganz zu schweigen. Meinetwegen sollte man schon versuchen, das anzugehen – nur große Hoffnungen würde ich nicht darauf setzen.      






Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, war von 1996 bis 1998 Bundesminister der Justiz und von 1994 bis 2002 FDP-Abgeordneter des Deutschen Bundestags. In Schleswig-Holstein gehörte er dem Landesvorstand der Liberalen an. Geboren 1941 in Berlin, lehrte er in Göttingen, Münster und als Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht in Kiel. Er war Richter an den Oberverwaltungsgerichten Schleswig-Holstein und Lüneburg und Verfassungsrichter in Sachsen. Heute ist er Mitglied des Deutschen Ethikrates, dem er bis 2012 vorsaß.

Foto: Asylbewerber stehen in langer Schlange an der Grenze zwischen Bayern und Österreich: „Bei dem Thema der sogenannten Sekundärmigration kommt außerdem noch eine gewisse Symbolhaftigkeit hinzu, weil sie an die Fähigkeit unseres Staates rührt, das Migrationsgeschehen überhaupt im Griff zu haben“ 

 

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