© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Immer wieder versuchen sie ihr Glück
Migration: Frankreich schickt aus Italien kommende illegale Migranten zurück / Andere Staaten, so auch Deutschland, tun sich mit den Dublin-Regeln schwer
Hinrich Rohbohm

Langsam rollt die Regionalbahn mit dem Ziel Grasse in der französischen Provence aus dem Bahnhof des italienischen Küstenstädtchens Ventimiglia. Außer Touristen und in Frankreich arbeitenden Italienern sind auch zahlreiche Migranten in den Zug gestiegen. Zumeist Schwarzafrikaner. Ihr Ziel: ein anderes Schengen-Land. Frankreich, Großbritannien, Spanien. Und auch Deutschland. 

Einer von ihnen hat sich in das Oberdeck des Zuges gesetzt. Immer wieder blickt er nervös um sich, läuft wieder hinunter zur Tür, blickt auf die Gleise. Dann entspannen sich seine Gesichtszüge. Keine Kontrolle, keine Polizei. Knapp 15 Minuten vergehen. Dann erreicht die Regionalbahn Garavan, einen Vorort der französischen Hafenstadt Menton auf der anderen Seite der Grenze. 

„Irgendwann werde ich es schaffen“, sagt Ogenyi

Es ist die erste Haltestation auf französischem Boden. Gendarmerie betritt die Waggons. Schnell springt der Schwarzafrikaner von seinem Sitz auf, blickt sich hektisch nach einem Versteck um. Doch es ist zu spät, mit weit geöffneten Augen sieht er einen Polizisten die Treppe zum Oberdeck des Zuges hochkommen. Die Blicke der beiden begegnen sich. Der prüfende Blick des Gendarmen und der des Migranten. Letzterer ist soeben bei dem Versuch ertappt worden, die Grenze nach Frankreich auf illegalem Wege zu passieren. 

„Passport bitte“, kommt die erwartete Frage des Uniformierten. Der Schwarzafrikaner kramt in seinen Taschen, holt ein Papierstück heraus, faltet es auseinander. Der Gendarm liest es. Dann schüttelt er den Kopf und weist den jungen Mann mit einer Handbewegung  in Richtung Ausgang. 

„Das passiert hier jeden Tag“, erklärt ein Schaffner auf Nachfrage der JF. Was sich zwischen Ventimiglia und Menton, zwischen der italienischen und französischen Grenze abspielt, hat sich seit einigen Jahren zur Alltagsroutine entwickelt. Tag für Tag versuchen hier Migranten die Grenze zu passieren. Per Bahn, mit dem Auto, dem Boot oder zu Fuß. 

Im Juni vorgangenen Jahres hatten sich hunderte Sudanesen hier aufgemacht, um illegal die Grenze nach Frankreich zu passieren. Die Polizei konnte sie nur mit Tränengas zurückhalten. Zwei Monate später durchbrachen 150 Einwanderer die Polizeisperren, drangen auf diese Weise nach Frankreich ein. Es handelt sich dabei um die sogenannte illegale Binnenmigration innerhalb der EU, die unrechtmäßige Einwanderung von einem Land der Europäischen Union in das andere. 

Eigentlich dürfte es diese Form der sekundären Zuwanderung gar nicht geben. Denn nach der sogenannten Dublin III-Verordnung ist das EU-Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, in das der Migrant als erstes eingereist ist. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will deshalb Ausländer aus Drittstaaten ohne gültige Einreisepapiere unmittelbar an der Grenze abweisen lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) drohte darauf mit ihrer Richtlinienkompetenz. Ein heftiger Streit entlud sich innerhalb der Union, während unterdessen die Abweisung illegaler Migranten an der französisch-italienischen Grenze längst gängige Praxis ist. 

Der Grund dafür: Nach den Pariser Terroranschlägen vom November 2015 hat Frankreich das Schengen-Abkommen kurzerhand ausgesetzt. Seitdem weist Frankreich Tag für Tag aus Italien kommende Migranten unmittelbar an der Grenze ab, schickt sie zurück nach Italien. Selbst bei Schwangeren und Minderjährigen kennt die Exekutive der Grande Nation kein Pardon. Mehr als 50.000 Menschen haben die Grenzkontrolleure im vorigen Jahr wieder zurückgeschickt. Und damit die Aussage der deutschen Kanzlerin, daß eine Abweisung nicht möglich sei, widerlegt. 

Bei Fotoaufnahmen kippt die Stimmung

Doch zur Wahrheit gehört auch, daß die meisten Zuwanderer trotz Zurückweisung in Ventimiglia bleiben. Immer wieder versuchen sie ihr Glück aufs neue. „Ich werde nicht aufgeben“, sagt auch Ogenyi entschlossen. Der 23 Jahre alte Nigerianier sitzt gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Migranten im Schutz einer schattenspendenden Palme vor dem Bahnhof von Ventimiglia. Vor zweieinhalb Jahren war er von seinem Heimatort in der Nähe der Hauptstadt Lagos aufgebrochen, um nach Europa zu gelangen. Schlepper brachten ihn an die Küste Libyens. Im Sommer 2016 fischte ihn die italienische Küstenwache aus dem Mittelmeer, nachdem er tags zuvor mit etwa 50 weiteren Migranten per Schlauchboot in See gestochen war. In Italien angekommen, stellte er einen Asylantrag. Der wurde inzwischen abgelehnt. Ogenyi müßte eigentlich abgeschoben werden. Bis jetzt blieben die Behörden untätig. 

„Ich will hier nicht darauf warten, bis sie mich ausweisen“, sagt er. Deshalb möchte er weiter. Von Mailand aus machte er sich auf nach Ventimiglia, Richtung französischer Grenze. „Dann möchte ich weiter nach Großbritannien“, sagt er. Sein Cousin lebe dort. „Auch mit der Sprache komme ich dort besser klar.“ Italienisch spreche er auch nach zwei Jahren Aufenthalt im Land kaum. „Es ist nicht einfach, über die Grenze zu kommen. Aber irgendwann werde ich es schaffen“, ist er überzeugt. 

Und Deutschland? „Ja“, meint Kenneth, ein Landsmann von Ogenyi. „Wenn Großbritannien nicht funktioniert, dann versuchen wir es dort.“ Würden sie es erst einmal nach Frankreich geschafft haben, sei das kein Problem mehr. Sie wissen längst: Die französisch-deutsche Grenze ist unbewacht. 

Doch um dort hinzugelangen, müssen sie zunächst die italienisch-französische Grenze überwinden. „Die Polizei kontrolliert sehr gründlich. Die meisten von uns sind schon mehrfach erwischt und wieder zurückgeschickt worden. Einige hier haben sogar schon mehr als zehn Versuche hinter sich“, erzählt Kenneth. 

Sadiq ist einer von ihnen. Der Sudanese will ebenfalls nach Deutschland, hat dort Freunde, wie er sagt. Ist es für ihn nicht günstiger, über die italienisch-österreichische Grenze weiter nach Deutschland zu gelangen? „Habe ich schon versucht“, erzählt er. Bisher ohne Erfolg. Denn auch dort wird inzwischen kontrolliert (JF 40/17). Mit dem Pkw seien die Chancen besser als mit der Bahn, aber dafür benötige er Helfer. „Die wollen dafür natürlich Geld haben.“ Geld, das er nicht habe. Und auf eigene Faust loszuziehen sei am Brenner zu gefährlich, die Berge einfach zu hoch. „Hier ist es über die Berge zwar auch gefährlich, aber doch einfacher, weil es nicht so kalt ist“, meint er. Manche würden den illegalen Grenzübertritt auch am Meer entlang versuchen. Meistens ohne Erfolg. Weil es aber doch einige schaffen, bleibe die Hoffnung bei vielen erhalten. 

In den Abendstunden, wenn die Sonne nicht mehr so heiß brennt, sind viele der Schwarzafrikaner am steinigen Strand von Ventimiglia anzutreffen. Hier befindet sich auch eine kleine Migrantenunterkunft. Mit Tür und großen Fenstern zum Strand mit Meerblick. Regelmäßig kommen um diese Zeit Schwarzafrikaner aus dem Stadtzentrum hierhin zurück. Einige haben Koffer dabei, in die sie alles einpacken, was sie in der Umgebung an Brauchbarem finden. Andere schultern große Müllsäcke, laufen damit durch die Stadt, durchforsten die Mülltonnen. Auf Fotografieren von der Unterkunft reagieren die Migranten gereizt, Steine fliegen in Richtung Kamera. 

Auch am Bahnhof wird die Stimmung bei Fotoaufnahmen aggressiv.  Gruppen von Schwarzafrikanern sitzen vor dem Bahnhofsgebäude. Einige von ihnen studieren die Fahrpläne. Wieder andere kundschaften die Lage an den Gleisen aus. Vereinzelt warten Migranten an den Treppen, die zu den Gleisen führen. Ist der Moment günstig, steigen sie in den Zug, aus dem sie wenige Kilometer weiter jedoch von der französischen Gendarmerie wieder herausgeholt werden. 

„Seit wir kontrollieren, kommt hier keiner mehr durch“, versichert ein französischer Grenzpolizist der JF in Garavan, dem ersten Bahnhof, an dem der Zug auf französischem Boden Halt macht. Und im Gegensatz zur italienisch-österreichischen sowie der österreichisch-deutschen Grenze ist auch der Weg über die Straße deutlich schärferen Kontrollen ausgesetzt. „Wir kontrollieren jeden Wagen. Auch der Kofferraum wird überprüft.“ Selbst Grenzschranken seien inzwischen wieder installiert. 

Auch die Zurückweisung der Migranten nach Italien funktioniert. Ein bilaterales Abkommen mit Italien erlaubt es den französischen Sicherheitskräften, auch auf italienischem Territorium innerhalb der Grenzregion zu operieren. 

Dennoch bleiben die Migranten, meiden sogar zunehmend Grenzübergänge wie den italienisch-schweizerischen in Chiasso oder den italienisch-österreichischen am Brenner. Auch widersprechen sie der Aussage des Gendarmen. „Es kommen trotzdem welche durch, wir haben ja Nachricht von ihnen“, sagt Ogenyi. Wie ihnen das gelungen ist, wisse auch er nicht. Aber: „Wenn du das nötige Geld zusammenhast, findet sich ein Weg über Schleuser. Oder du riskierst es auf eigene Faust.“ Auch selbsternannte „Flüchtlingshelfer“ spielen offenbar eine Rolle. „Sie helfen uns manchmal.“ Auch bei der Flucht? Das Lächeln des Nigerianers ist vielsagend. 

Auffällig ist jedenfalls, daß ein kleiner Ort wie Ventimiglia trotz nicht aufhörenden Zustroms von Migranten nicht aus allen Nähten zu platzen droht. Kommen also doch mehr Menschen illegal über die Grenze? Wir hören uns im Hafen von Menton um. Italien ist von hier aus in Sichtweite, grenzt direkt an die Stadt. „Immer wieder versuchen Migranten an der Küste entlang hinüberzuschwimmen“, bestätigen Fischer. Einige seien dabei ertrunken. „Aber ein guter Schwimmer schafft das, es sei denn, er wird von der Gendarmerie erwischt.“