© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Moralische Verstrickungen
Drama: Asghar Farhadis Film „Offenes Geheimnis“
Wolfgang Paul

Das Uhrwerk im Kirchturm macht es deutlich: Unerbittlich schreitet die Zeit voran, sie läßt sich nicht zurückdrehen. Und so lassen sich auch die Ereignisse in der Vergangenheit, deren Schatten in die Gegenwart ragen, nicht rückgängig machen. In Asghar Farhadis neuem Film, der den deutschen Titel „Offenes Geheimnis“ trägt, belasten sie die Beziehungen in einer spanischen Familie.

Der iranische Autor und Regisseur, der durch sein Meisterwerk „Nader und Simin – eine Trennung“ bekannt und 2011 mit dem Goldenen Bären auf der Berlinale, dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film und einer wahren Flut von internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, ist ein Spezialist für die Schilderung fragiler Verhältnisse. Ob es um eine zerbrechende oder eine bereits zerbrochene Ehe geht („Feuerzauber“), um einen Umzug in eine zweifelhafte Wohnung („The Salesman“) oder nun um eine Liebschaft in der Vergangenheit, die für gleich zwei Ehen zur Bedrohung wird, Farhadi macht einen spannenden Film daraus.

Jetzt besteht sein Coup erst einmal darin, daß er ein ehemaliges Liebespaar im Film mit einem realen Ehepaar besetzt und das Drehbuch mit dem Blick auf dieses prominente Paar geschrieben hat. Für Penélope Cruz und Javier Bardem benötigt er keine inszenatorische Kniffe, damit sie vor der Kamera eine Vertrautheit ausstrahlen, und obendrein können die beiden Stars Zuschauer anlocken. Gedreht wurde an Originalschauplätzen.

Ein Vorwurf löst den anderen ab

Cruz spielt Laura, eine nach Argentinien ausgewanderte Spanierin, die zur Hochzeit ihrer Schwester Ana (Inma Cuesta) in die Heimat zurückkehrt. Bardem verkörpert Paco, einen Winzer, der es zum eigenen Weingut gebracht hat und von Lauras Vater als Emporkömmling verachtet wird.

Der Film läßt sich viel Zeit mit der Schilderung der Heiratsvorbereitungen und der Feierlichkeiten, er zeigt ausgelassene Hochzeitsgäste und ein strahlendes Brautpaar. Erst als Lauras Tochter Irene verschwunden ist, nimmt er Fahrt auf, um mit jener Atemlosigkeit dem Geschehen zu folgen, die Farhadis Filme auszeichnet.

Ist Irene fortgelaufen? Sie wird gesucht, dann taucht die Nachricht ihrer Entführer auf, sie fordern Lösegeld. Ein zweites Geheimnis, das keineswegs so offen ist wie das der alten Beziehung zwischen Laura und Paco, kommt ans Tageslicht. Die Ehepartner von Paco und Laura treten in Aktion. Der sympathische Agentinier Ricardo Darín, den man in Europa bisher sträflich übersehen hat, verkörpert Lauras Ehemann Alejandro. Pacos Frau Bea spielt Bárbara Lennie. 

Während auf der Leinwand ein Vorwurf den nächsten und eine Verdächtigung die nächste ablöst, wird klar, daß der Autor Farhadi moralische Verstrickungen beschreibt, ohne einen der Beteiligten bloßzustellen. Schwarz-weiß-Zeichnungen sind seine Sache nicht, und gerade das macht die Filme so unvergleichlich, auch wenn diesmal die uhrwerkartige Offenlegung der Hintergründe etwas zu routiniert wirkt.