© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Das Ende gigantischer Höhlenlabyrinthe
Der Philosoph Michael Kühnlein will die Angst vor Gott durch einen vernünftigen Ausgleich von Religion und Politik überwinden
Felix Dirsch

Europa ist ein Kontinent, der sich durch einen hohen Grad an technisch-gesellschaftlicher Modernität auszeichnet, gleichzeitig aber im Hinblick auf seine kulturelle Herkunftsidentität weithin entleert und ausgezehrt ist. Diesem Pol stehen Revitalisierungsprozesse der Religion in außereuropäischen Teilen der Welt gegenüber. 

Diese unterschiedlichen Strömungen markieren nicht nur philosophisch-theologische Bruchlinien in interkulturellen Debatten; vielmehr haben die Diskussionen um die Aufnahme eines Gottesbezuges in das später verworfene Projekt der europäischen Verfassung gezeigt, daß auch juristische Fragestellungen von solchen Kontroversen maßgeblich berührt werden.

Der Frankfurter Religionsphilosoph und Politiktheoretiker Michael Kühnlein fragt in einem pointierten Essay nach den tieferen Dimensionen der europäischen Angst vor der Religion. In diesem Rahmen kann er an maßgebliche Vorarbeiten anschließen, nicht zuletzt an die Studie des Religionssoziologen José Casanova „Europas Angst vor der Religion“. 

Religion als Widerspruch zur „Selbst-Ikonisierung“ 

Ein wesentlicher Grund für das Ziel der Laizisten, die Minimierung zumindest des öffentlichen Wirkens religiöser Vertreter anzustreben, liegt in dem Vorurteil, religiöse Vorstellungen seien Gift für tolerantes, weltoffenes und auf Autonomie basierendes Zusammenleben. Solche Furcht kann durch das verstärkte Vordringen islamischer und islamistischer Kontingente in der unmittelbaren Gegenwart durchaus neue Nahrung erhalten. Die „Unterwerfung unter Gott“ steht im diametralen Widerspruch zur im Westen verbreiteten „Selbst-Ikonisierung“ (Kühnlein) des Individuums seit der Aufklärung.

Für Kühnlein ist die Unbehaustheit das herrschende Gefühl seit Beginn der Neuzeit. Sigmund Freud bringt diese Emotionslage unvergleichbar auf den Punkt: Der Mensch ist drei zentralen Kränkungen ausgesetzt, die mit den Namen Kopernikus, Darwin und Freud in Verbindung zu bringen sind. Der Mensch wird infolge aufgeklärten Erkenntnisfortschrittes mehr und mehr auf sein subjektives Gehäuse zurückgeworfen und kann nicht mehr jenseits des eigenen Denkapparats wahrnehmen – ein Reduktionismus, der zuerst von Hume und Kant hoffähig gemacht wird und heute von Szientisten aller Art postuliert wird. 

Der Siegeszug aufgeklärten Gedankenguts verläuft freilich nicht linear, sondern, wie schon vor langer Zeit erkannt, dialektisch. Dieser Grundzug des „Zeitalters der Vernunft“ zeigt sich schon im Ablauf der Französischen Revolution. Deren teilweise katastrophale Konsequenzen bieten den idealen Resonanzraum für „Schwarzmänner“ wie den Juristen und Schriftsteller Joseph de Maistre (und seine zahlreichen Nachfolger), für die die Ereignisse von 1789 ein satanisches Schauspiel ersten Ranges darstellen. Kühnlein wendet gegen das große rationale Experiment der europäischen Geistesgeschichte mit vielen anderen ein, daß es die Aufklärung nicht geschafft habe, auf existentielle Fragen eine mehr als nur oberflächliche Antwort zu geben. 

Kühnleins Abgrenzung von den Dunkelmännern, zu denen für ihn auch Carl Schmitt gehört, wie von den religionsfeindlichen Hyperaufklärern ist eindeutig: „Während der Unbehauste Angst vor Gott hat, weil er seine Selbstbestimmung nicht aufgeben will, haben die Schwarzmänner Angst vor Gott, weil jeglicher Ungehorsam gegen den Höchsten die Welt an den Feind verfallen läßt.“ Die Mitte anzuvisieren ist natürlich selten falsch.

Was will uns Kühnlein sagen? Er plädiert für Gelassenheit – eine Handlungskategorie, die der späte Heidegger im Umgang mit der Technik empfiehlt. Natürlich dürfen Seitenhiebe auf jene nicht fehlen, die Umrisse einer Leitkultur entwerfen und das eigene Staatsvolk gegen multikulturelle Auflösung bewahren wollen. Weiterhin beruft sich Kühnlein auf Habermas’ Anregung, „komplementäre Lernprozesse“ in Gang zu setzen. Vertreter von Religion und Politik sollen in ein ausgleichend-vernünftiges Verhältnis miteinander gebracht werden und nicht nur wechselseitige Höhlenlabyrinthe graben, um die jeweils andere Seite in die Irre zu führen. Dieses Programm ist bekannt. Der frühere Papst Benedikt XVI. hat sich das Ziel, Glauben und Vernunft zusammenzuführen, aufs Panier geschrieben. Das bedeutet indessen nicht, daß man nicht auch auf anderen Denkwegen zu diesem Resultat kommen kann. Besonders originell ist diese Schlußfolgerung freilich nicht.

Michael Kühnlein: Wer hat Angst vor Gott? Über Religion und Politik im postfaktischen Zeitalter. Reclam-Verlag, Ditzingen 2017, gebunden, 95 Seiten, 6 Euro