© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Mehr als ein kleines Erdbeben
Neue Fraktionsführung: Die Abgeordneten der Union haben den Aufstand gegen die Bundeskanzlerin geprobt
Paul Rosen

Der deutsche Politikbetrieb folgt einer Grundregel: Solange Kanzler und Parteivorsitzende den Abgeordneten die Sicherheit geben können, bei der nächsten Wahl ihr Mandat wiederzubekommen, ist die Führung nicht gefährdet. Ist das Vertrauen jedoch weg, kommt es zu Erschütterungen der Macht.

 Nichts anderes bedeutet die Wahl des vom Establishment als „Außenseiter“ eingeschätzten Ralph Brinkhaus zum Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU. Es ist ein Menetekel für Kanzlerin Angela Merkel, deren Zeit immer schneller abläuft. CDU und CSU stehen nicht nur vor Wahlniederlagen, sondern (laut Umfragen) vor Wahlkatastrophen. In Bayern, wo am 14. Oktober gewählt wird, könnten die CSU-Verluste zweistellig werden, in Hessen, wo 14 Tage später gewählt wird, droht die CDU unter 30 Prozent zu fallen. Bei den Wahlen im kommenden Jahr dürfte es nicht besser aussehen. 

Merkel erkannte die       Zeichen an der Wand nicht

Viele Abgeordnete zittern schon heute um ihre Wiederwahl in den Bundestag, glauben nicht mehr an die Erfolgsbringerin Merkel. Das beflügelte die Kandidatur von Brinkhaus, der im übrigen schlau genug war, sich nicht als Merkel-Gegner zu positionieren. Auch unmittelbar nach seiner Wahl versicherte er, zwischen ihn und die Kanzlerin passe „kein Blatt Papier“. Merkel hätte gewarnt sein müssen. Einen Tag vor der Wahl von Brinkhaus sorgte die hessische Landesgruppe für eine Sensation: Die 17 CDU-Abgeordneten servierten ihren Vorsitzenden Michael Meister ab und wählten statt dessen den Entwicklungspolitiker Michael Brand zum Chef. Meister war in den vergangenen Jahren durch seine nibelungenhafte Treue zu Merkel aufgefallen. So einer wird nur abgewählt, wenn das Vertrauen in die Führung verlorengegangen ist. Ein ähnlicher Vorgang war auch in Sachsen zu beobachten, wo der Favorit des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer für den Fraktionsvorsitz im Landtag durchfiel und statt dessen der vom Establishment als „Außenseiter“ eingeschätzte Christian Hartmann gewählt wurde. 

Hartmann weigerte sich, die Möglichkeit einer Koalition mit der AfD auszuschließen – ein schwerer Verstoß gegen die Merkel-Doktrin, wonach es nie eine Koalition mit der AfD geben darf. Die Zeichen an der Wand erkannte Merkel nicht, so wie ihr schon einige Tage zuvor die Auswirkungen der Maaßen-Affäre nicht klar geworden waren. Stur, wie sie Kritik an der Masseneinwanderung zurückwies („Nun sind sie halt da“), hielt sie am unbeliebten Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder fest („Ich brauche ihn“). Sie ließ es auf die Kampfabstimmung ankommen, obwohl besser schnell Gespräche mit Kauder über dessen Zukunft auf einem attraktiven Botschafterposten hätten geführt werden müssen. 

Mit Brinkhaus wollte Merkel nach dessen Wahl nicht einmal zu einem gemeinsamen Fototermin, was ein wichtiges Signal zur Einbindung des neuen Fraktionschefs gewesen wäre. Brinkhaus zeigte sich jedoch weiter Kanzlerin-freundlich, und auch die Wahl seiner Stellvertreter brachte keinen Hinweis mehr, daß die Fraktion auf Konfrontationskurs zum Kanzleramt gehen will: Bestätigt wurde die komplette Kauder-Mannschaft. Dennoch wird der Job der Kanzlerin nicht einfacher: Kauder war ihr Apparatschik. Ob Euro-Rettung oder Einwanderung – Kauder vollstreckte Befehle, während mit Brinkhaus verhandelt werden muß. Die Regierungsmaschine wird nicht mehr rund laufen, auch wenn Brinkhaus sich bemüht, Solidaritätsadressen nach oben zu schicken. So lehnte er zuletzt den Vorschlag von FDP-Chef Christian Lindner ab, Merkel möge im Bundestag die Vertrauensfrage stellen. 

Daß Brinkhaus sich auch für die Wiederwahl Merkels auf dem CDU-Parteitag im Dezember aussprach, verwundert nicht mehr. „Ich gehe davon aus, daß sie antritt und würde das auch befürworten“, sagte er. Inzwischen liegt Merkels Erklärung vor, sie werde wieder antreten. Doch bis zum Parteitag in Hamburg im Dezember wird es noch einige politische Erdbeben geben. Falls die Verluste der CSU in Bayern zweistellig werden, ist ein Rücktritt von Parteichef Horst Seehofer zwangsläufig. Merkel würde damit ein weiterer Eckpfeiler ihrer Koalition abhanden kommen. Zwar erinnert Seehofers Verhalten oft an ein trotziges Kind, aber daß er zum Schluß immer einknickt, darauf konnte sich Merkel verlassen. Der nächste CSU-Chef wird sich mit Sicherheit anders verhalten. Nach Bayern droht in Hessen ein miserables Ergebnis. 

Daß Merkel erneut 89,5 Prozent wie auf dem Parteitag vor zwei Jahren erzielen wird, ist ausgeschlossen. Nach einem prominenten Gegenkandidaten sieht es zur Zeit noch nicht aus. Die Chancen von Gesundheitsminister Jens Spahn sind gesunken. Spahn ist  – wie Brinkhaus – Westfale. Daß zwei Westfalen höchste Ämter in der CDU bekleiden, ist in der regional fein austarierten Parteiführung kaum möglich. So stabilisiert die Wahl von Brinkhaus die CDU-Chefin – welch eine Ironie des Schicksals.