© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Nicht mehr nur Spielball sein
Der Historiker Hans Fenske zeichnet den schwierigen Weg Deutschlands zwischen 1792 und 1871 nach
Dag Krienen

Hans Fenske, 1977 bis 2001 Professor für Neue und Neuste Geschichte an der Universität Freiburg, hat eine bemerkenswerte neue Geschichte Deutschlands zwischen dem Untergang des Alten (Heiligen Römischen) Reichs in den Revolutions- und napoleonischen Kriegen und der Schaffung des neuen „Zweiten Kaiserreichs“ in den Einigungskriegen von 1864 bis 1871 vorgelegt. 

Das Buch richtet sich nicht an die historischen Fachleute und will auch keine völlig neuen Sachverhalte aufdecken. Es will vielmehr historisch interessierten Lesern eine altbekannte Geschichte unter Rückgriff auf bekannte Quellen auf neue Weise erzählen. Dem Leser wird – dieser Nachteil soll nicht verschwiegen werden – dabei einiges an Vorwissen und an Konzentration abverlangt, zumal der Autor einen sehr nüchternen Sprachstil pflegt. Sich durch das Buch hindurch zu kämpfen lohnt sich aber auf jeden Fall. Denn es eröffnet neue, ungewohnte Perspektiven auf den Gang der Ereignisse zwischen 1792 und 1871. Fenske läßt den Leser die noch als offen erfahrbaren, nicht durch die späteren Ergebnisse schon vorherbestimmten politischen Entscheidungssituationen durchleben. Altbekannte und fest in ein bestimmtes Geschichtsbild eingeordnete Ereignisse erscheinen in einem neuen Licht. 

Fenske stellt seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand, das „Streben nach deutscher Einheit“ zwischen 1792 (Beginn der Revolutionskriege) und 1871 (Gründung des Zweiten Reiches), zugleich etwas provokativ als Etappe „auf dem Weg zur Demokratie“ vor. Ihm geht es jedoch nicht um die Entwicklung der demokratischen Kräfte in dieser Zeit. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die vielfältigen Anläufe, nach dem Untergang des alten Reiches ein neues übergreifendes politisches Dach für alle Deutschen zu finden, das ihnen militärische Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit sowie auch ein gewisses Maß an Freiheit und politischer Mitsprache bot. Tatsächlich hatte schon das Alte Reich bei allen Defiziten einige dieser Funktionen erfüllt. Sein Untergang 1806, auf Geheiß Napoleons, war von den gebildeten Deutschen durchaus als Verlust empfunden worden. Die Suche nach einem moderneren „Ersatz“ prägte die Jahre zwischen 1806 und 1871, die Gründung des Zweiten Reiches 1871 wurde dann auch als Ende der „schrecklichen kaiserlosen Zeit“ verstanden.

Sicherheit im europäischen Haifischbecken

Ein wichtiges Motiv bei der Suche nach einem nationalen Dach oberhalb der für damalige Begriffe durchaus modernen deutschen Einzelstaaten nach 1815 war die Suche nach effektiven Garantien für die Sicherheit Deutschlands nach außen. Und das zu Recht. Nicht nur während der napoleonischen Kriege war die europäische Politik ein Haifischbecken, in der die Großmächte bedenkenlos Territorien ihrer Nachbarn an sich zu bringen versuchten. Den Zeitgenossen Mitte des 19. Jahrhunderts war noch lebhaft in Erinnerung, wie Napoleon Deutschland zerstückelt und große Teile einfach seinem Reich einverleibt hatte. 

Im Vorfeld des deutsch–französischen Krieges 1870 unterstrich dann sein Neffe Napoleon III. nicht nur den Anspruch auf das linksrheinische Deutschland, sondern bot für eine Kriegsbeteiligung den Dänen Schleswig und Holstein und den Österreichern Schlesien an – sowie den Russen für eine wohlwollende Neutralität Danzig.

Die äußere Sicherheit Deutschlands durch die Schaffung eines nationalen Daches über den Einzelstaaten zu verbessern, war so bei allem Streit um das Wie ein allgemeines Anliegen, das zu Recht im Fokus der Darstellung steht. Nicht nur die gebildeten Bürger, auch viele der politischen Führer der Einzelstaaten bemühten sich um eine Lösung. Fenske konzentriert sich auf die Aktionen der staatlichen Akteure, weil in letzter Konsequenz allein sie die Macht hatten, entsprechende politische Strukturen zu schaffen. 

Doch auch dort, wo zeitweise die Bürger die Oberhand zu erlangen schienen, spielte die Frage der äußeren Sicherheit eine zentrale Rolle. Die deutsche Märzrevolution von 1848 war mehr noch als vom freiheitlichen Vorbild der französischen Februarrevolution von der verbreiteten Angst motiviert, daß das revolutionierte Nachbarland, ähnlich wie 1789 bis 1792, rasch zur militärischen Expansion übergehen könnte. Für die Männer der Paulskirche war die deutsche Einheit als Garantie gegen den französischen Expansionsdrang ebenso wichtig wie eine freiheitliche Staatsordnung nach innen. Preußen war durchaus offen für ihr Anliegen und verfolgte für einige Jahre nach 1848 mit seiner Unionspolitik ähnliche Ziele wie die Paulskirche, bestand aber auf ein Einvernehmen mit den übrigen Einzelstaaten. Von Österreich zunächst blockiert, nahm es unter Bismarcks Ägide diese Politik ab 1864 wieder auf, als Dänemarks Versuche zur Inkorporation Schleswigs Deutschland wieder zum bloßen Spielball der europäischen Politik zu degradieren schien. 

Der Kaiserreich 1871 als lebhaft begrüßte Lösung

Wie Fenske zeigt, war Bismarck sich der Bedrohlichkeit der Lage jederzeit bewußt, aber zu keiner Zeit auf eine militärische Lösung fixiert und erwog viele Möglichkeiten, Deutschland irgendwie in den Sattel zu setzen. Die österreichische Obstruktionspolitik führte zum kurzen Krieg von1866 und zur Teillösung des Norddeutschen Bundes. Die auf die Demütigung und Verstümmelung des neuen Rivalen in Europa ausgerichtete Politik Frankreichs ließ den von Bismarck zunächst noch auf die fernere Zukunft datierten Anschluß der süddeutschen Staaten an diesen 1871 in Deutsches Kaiserreich umfirmierten Bund Wirklichkeit werden. 

Dieses Kaiserreich war, wie Fenske unterstreicht, keine von oben her erzwungene, sondern von der breiten Masse der Deutschen lebhaft begrüßte Lösung der deutschen Frage im Sinne einer nun endlich gegen äußere Gefahren abgesicherten Grundlage der weiteren Entwicklung der Nation – einschließlich ihrer demokratischen. Bei seiner Gründung war bereits der Norddeutsche Bund 1867 der in dieser Hinsicht modernste Staat in Europa gewesen, als er für seinen Reichstag das gleiche und geheime Männerwahlrecht eingeführt hatte.

Hans Fenske:  Auf dem Weg zur Demokratie: Das Streben nach deutscher Einheit 1792–1871. Lau Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018, gebunden, 439 Seiten, Abbildungen, 38 Euro