© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Stabiles Machtgefüge
Debatte um EU-Agrarwende / Sind die Grenzen des Wachstums der industriellen Landwirtschaft erreicht?
Dieter Menke

Greenpeace ist empört: Der Ausschuß für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung im EU-Parlament, der mit der Kommission und dem Ministerrat die Agrarpolitik festlegt, werde von Abgeordneten dominiert, die „starke Verbindungen zur Agrarindustrie haben“, vermeldet eine Studie der Umweltorganisation. Bei 25 von 46 Ausschußmitgliedern seien „Industry Links“ erkennbar, die Parlamentarier als „aktuelle oder ehemalige Partner von Agrarunternehmen“ auswiesen. Für eine Ausschußmehrheit bei Abstimmungen über agrarpolitische Weichenstellungen genügten bereits 24 Stimmen.

Die Agrarindustrie nimmt jedoch nicht nur über EU-Abgeordnete Einfluß. Denn nicht weniger als 151 Organisationen sind im Brüsseler Lobbyregister in der Rubrik Landwirtschaft und Ernährung verzeichnet. Unter ihnen agiert als Platzhirsch der Dachverband der nationalen Bauernverbände (Copa-Cogeca), dessen Emissäre bei keiner Anhörung des Agrarausschusses fehlen und die in allen relevanten „Stakeholder“-Gremien der EU vertreten sind.

„Stabiles Machtgefüge“

Offiziell bündelt Copa-Cogeca die Interessen der EU-Bauern und landwirtschaftlichen Genossenschaften. Doch deren Spitzenfunktionäre seien mit „gebenden Händen“ eng verzahnt: der Landmaschinen-, Dünger-, Pharma- und Biotechindustrie sowie dem Verband der Pestizidproduzenten (ECPA). Und alle haben sich überdies dicht vernetzt mit den „nehmenden Händen“: der Ernährungsindustrie und dem Lebensmittelhandel. Angesichts eines derart „stabilen Machtgefüges“, so klagt der Agrarsoziologe Hannes Lorenzen, der die Grünen im Agrarausschuß des EU-Parlaments berät, sei es nicht verwunderlich, wenn die „Gemeinsame Agrarpolitik“ (GAP) seit Jahrzehnten industriehörig auf Masse statt auf Klasse setze. 80 Prozent der GAP-Gelder würden an nur 20 Prozent der Betriebe fließen und so dafür sorgen, „daß wir in der EU pro Jahr 400.000 bewirtschaftete Höfe verlieren“.

Der „Medienmacht dieser Lobby“ sei es gelungen, sich trotz wachsender Transparenz über „unsoziale Verteilung und ökologische Zerstörung“, die mit der gegen jede Reform resistenten „klassischen“ EU-Agrarpolitik einhergehe, als alternativlos zu inszenieren. Eine Strategie, die deshalb bisher erfolgreich gewesen sei, weil die Kritik an den vor allem Großbetriebe päppelnden unsinnigen Subventionen und Ausgleichszahlungen zu vielstimmig ausfalle. Für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch zukunftsfähige Förderpolitik komme infolge dieser Zersplitterung daher immer noch „zuwenig kritische Substanz“ zusammen.

Eine solche verwirrende Vielstimmigkeit der Kritik scheint auch das dicke Themenheft „Zukunftstaugliche Landwirtschaft“ der links-grünen Zeitschrift Politische Ökologie (154/18) zu dominieren. Bei vertiefter Lektüre zeigt sich jedoch bald ein roter Faden, der die zwei Dutzend Beiträge von Agrarsoziologen, Tierethikern, Veganern, Gentechnik-Feinden, Anwälten des Ökolandbaus, „Small is beautiful“-Propagandisten, Klima-, Tier- und Artenschützern verbindet. Einig sind sich alle nämlich im uralten Club-of-Rome-Mantra von den Grenzen des Wachstums, die ein „Weiter so!“ einfach nicht mehr erlauben.

Im Unterschied zu früher, als Gegnern der industriellen Landwirtschaft das Odium von Öko-Sektierern anhaftete, glauben sie jetzt, die Stunde für eine echte Agrarwende habe endlich geschlagen. Einerseits, weil, angetrieben durch den Klimawandel, die Konsequenzen des hohen Einsatzes von Düngern und Pestiziden sich jedermann im Alltag aufdrängen. Solange Naturschützer nur auf die Brisanz roter Listen hinwiesen, meint Frieder Thomas, Leiter des Kasseler Instituts für ländliche Entwicklung, hätten aussterbende Falter nur ein paar Biologen berührt. Wenn er jetzt auf seiner Windschutzscheibe keine Insekten mehr finde, beginne auch Otto Normalverbraucher, sich unter Verlust der Artenvielfalt etwas vorzustellen.

Mehr Fleisch und Getreide für immer mehr Menschen

Im Juni hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Deutschland wegen permanenter Verstöße gegen die EU-Nitrat-Richtlinie („Gülleklage“, Az. C-543/16) verurteilt. Ungeachtet der Obergrenze für Wirtschaftsdünger von 170 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr, so rechnet die Agrarwissenschaftlerin Christine Chemnitz (Heinrich-Böll-Stiftung) vor, werde an vielen deutschen Meßstellen der 50-Milligramm-Grenzwert überschritten, und die Stickstoffbelastung des Grundwassers steige.

Da Nitrat, umgewandelt zu Nitrit, den Sauerstofftransport im menschlichen Körper einschränkt, seien die Gesundheitsgefahren dieses Sektors industrieller Landwirtschaft genauso hoch wie bei üppiger Verwendung von Antibiotika in der Tierproduktion. Derzeit werden 131.000 Tonnen davon in Nutztierkörper gepumpt und landen schließlich in menschlichen Mägen. Selbst von den ministeriellen Säulen der GAP werde signalisiert, daß der Preis für die herkömmliche Landwirtschaft in unbezahlbare Höhen schnelle.

So veröffentlichte der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium 2015 ein Gutachten, das vor sinkender Akzeptanz für die Nutztierhaltung warnte, sollten Mastschweinbestände weiterhin zu 80 Prozent Verletzungen oder Milchkühe zu 38 Prozent Euter-Entzündungen aufweisen. Ähnlich würden von der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie geweckte Wende-Hoffnungen enttäuscht. Ein aktueller Bericht des Umweltbundesamtes bilanziere, daß statt des angepeilten 20-Prozent-Anteils für den Ökolandbau erst 7,5 Prozent erreicht seien. Der Kampf gegen Pflanzenschutzmittel werde von Agrarministerin Julia Klöckner (CDU), die sich vom EU-Verbot von drei Neonikotinoiden die „Rettung der Bienen“ verspricht, nicht energisch genug angepackt, wie Josef Tumbrink (Naturschutzbund NRW) und Werner Kratz (FU Berlin) ätzen.

Solche um Bewahrung des Status quo ringenden Kräfte dürften, wie Christine Chemnitz und die fundamentalistische Tierethikerin Leonie Bossert (Uni Tübingen) meinen, Wandlungsprozesse hin zur biologisch-veganen Landwirtschaft nicht stoppen. Garant dafür ist ihnen die Bevölkerungsexplosion im globalen Süden. Müsse deswegen, wie von der UN-Ernährungsorganisation FAO prognostiziert, die Fleischerzeugung von 320 Millionen Tonnen (2016) bis 2050 um 85 Prozent steigen, könne man sämtliche Klimaschutzpläne vergessen.

Es gebe kaum konkrete Aussichten, durch agrotechnische Innovationen oder neue Anbaumethoden mehr Fleisch und Getreide zu erzeugen. Die Hektarerträge stagnierten weltweit. Vielerorts endeten ambitionierte Anstrengungen zur Ertragssteigerung daher in ausgelaugten Böden und Wasserknappheit.

Bossert schwant, daß zwar mit „ökologischer Landwirtschaft ohne Tiere“ gegen drohende Hungerkatastrophen wenig auszurichten ist. Aber wenn gleichzeitig Milliarden Menschen auf Fleisch verzichten, könne das in Europas Ställen, auf Feldern und Wiesen zu startende Unternehmen Weltrettung gelingen.

„Zukunftstauglich – Stellschrauben für eine echte Agrarwende“, Politische Ökologie 154/18:  oekom.de

Projekte zur GAP-Reform 2020:  www.kasseler-institut.org